Transformieren ist ein Tu-Wort

Viele tolle Gruppen setzen sich dafür ein, dass sich unsere Gesellschaft grundlegend und langfristig in eine solidarische Zukunft entwickelt. Mit diesem Handbuch wollen wir diese Menschen dabei unterstützen, zielgerichtete Perspektiven und Strategien für ihr Engagement zu entwickeln – und so erfolgreicher zu werden.

Solidarität zeigt sich immer wieder kurzfristig als Reaktion auf akute Krisensituationen. Dann werden nicht nur einzelne Personen aktiv, sondern auch die breite Gesellschaft. Dies zeigten beispielsweise Krisen wie Covid-19 oder der Ukrainekrieg, die die Verletzlichkeit der globalisierten Welt von heute auf morgen deutlich machten. Doch der kapitalistische Normalbetrieb läuft in der Regel weiter wie gehabt. Ausbeutung, sowohl von Menschen als auch von nicht-menschlicher Natur, und Diskriminierung sind weiterhin allgegenwärtig. Solidarität endet an Nationalgrenzen und die EU lässt Menschen unter unwürdigen Bedingungen an den europäischen Außengrenzen erfrieren. Statt solidarische Gesundheitssysteme auszubauen, werden Milliarden in klimaschädliche Industrien und militärische Aufrüstung gesteckt. Während viele Menschen ihre Miete nicht mehr zahlen können, steigen die Gewinne von Immobilienkonzernen. Damit der globale Kapitalismus ungestört weiterläuft, wird das Wohlergehen von Mensch und Mitwelt hintangestellt. Die Problemursachen stecken in den Strukturen unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems und ermöglichen einigen ein Leben auf Kosten anderer Menschen und der nichtmenschlichen Natur. Auch unser Alltag ist verwoben mit Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen – das nennen wir imperiale Lebens-, Produktions- und Reproduktionsweise.1

Mehr über das Konzept der imperialen Lebensweise und
unsere Vision für eine solidarische Lebensweise kannst du in
unseren Büchern „Auf Kosten anderer“ und „Das Gute Leben
für Alle“ nachlesen, online und kostenlos unter:
ilawerkstatt.org

Was wäre, wenn es anders ginge? Wenn wir es schaffen würden, nicht auf Kosten anderer zu leben, also eine solidarische Lebensweise aufzubauen? Unterschiedliche soziale Bewegungen werfen diese Fragen immer wieder auf. Trotz der Kämpfe gegen das Bestehende, in denen Perspektiven für ein gutes Leben für alle durchscheinen, ist ein Systemwandel jedoch nicht in Sicht. Die imperiale Lebensweise ist beharrlich und taucht in unterschiedlichen Formen immer wieder auf. Umso dringlicher sind die Fragen:

Wie schaffen wir es, die Weichen hin zu einem Guten Leben für alle zu stellen? Wie können wir eine solidarische, sozial-ökologische Lebensweise breit und dauerhaft aufbauen? Welche Strategien gibt oder braucht es in der gesellschaftlichen Linken dafür?

1 Der Begriff wurde geprägt von den Sozialwissenschaftlern Ulrich Brand und Markus Wissen (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. Oekom. Wenn wir im Folgenden von imperialer Lebensweise sprechen, meinen wir immer auch< die imperiale Produktions- und Reproduktionsweise.

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Radikale Transformation – Worum geht’s hier eigentlich?

Kurz gesagt: Transformation meint Prozesse, die einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel hervorbringen und die herrschenden Verhältnisse überwinden. Daher auch der Titel unseres Buchs, der von der Idee des Pachakuti inspiriert ist. Pachakuti ist ein Begriff aus dem Andenraum, aus der indigenen Aymara-Sprache. Der Chronist Waman Puma de Ayala hat ihn als „die Welt auf den Kopf stellen“ übersetzt. Gemeint ist ein radikaler Wandel der Welt, wie wir sie kennen. Wie der uruguayische Aktivist und Intellektuelle Eduardo Gudynas beschreibt, meint Pachakuti, mit den bestehenden Verhältnissen revolutionär zu brechen und sie aufzulösen – und gleichzeitig schon etwas Neues zu schaffen.2 Im Alltagshandeln, in neuen Beziehungsweisen mit Mensch und nicht-menschlicher Natur, in neuen Vorstellungswelten und politischen Praktiken entsteht eine Vielzahl von neuen Welten.

Die Inhalte und die Richtung von gesellschaftlichem Wandel sind umkämpft – auch reaktionäre und marktliberale Akteur*innen sprechen über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Wir knüpfen an der zuvor beschriebenen Idee an und fassen Transformation als einen umfassend emanzipatorischen Begriff, der die radikale Überwindung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse von unten betont. Eine sozial-ökologische Transformation zielt bei diesem Prozess auf eine sozial gerechte und ökologisch stabile Gesellschaft ab (→ Kapitel: TRANSFORMATION HEISST SYSTEM CHANGE).

Darüber hinaus bedeutet Transformation, dass vielfältige Übergangsprozesse den Systemwandel herbeiführen – diese können mal schnell, laut und abrupt und mal schleichend, kontinuierlich und unscheinbar sein. Transformation verbindet revolutionäre Veränderungen mit reformartigem Umbau. Menschen suchen Ansatzpunkte, um das Hier und Heute vor Ort zu verbessern und verweisen damit gleichzeitig auf ein besseres Morgen, in dem das Zusammenleben ganz anders – solidarisch, ökologisch und herrschaftsfrei – gestaltet ist. Dafür gibt es keinen Masterplan und kein zentrales Transformationskomitee, das den Systemwandel steuert. Es ist ein kollektiver Suchprozess nach einem Guten Leben für alle und den Wegen dorthin (→ Kapitel: WIE KOMMT DER WANDEL IN DIE WELT?).

Emanzipatorische Transformation wird von vielen gemacht und dreht sich unserer Meinung nach ganz zentral um den Aufbau wirkungsvoller Gegen-Hegemonie von unten (der Begriff der Gegen-Hegemonie wird im → Kapitel: SOLIDARISCHE GEGEN-HEGEMONIE AUFBAUEN genauer erläutert). Bei der Aushandlung von Transformationsprozessen spielen die bestehenden Institutionen und (staatlichen) Rahmenbedingungen, in denen wir uns als Menschen auf der Suche nach einem Guten Leben für alle bewegen, eine wichtige Rolle (→ Kapitel: GEGEN-HEGEMONIE UND STAAT). Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie wir gegen die starken Beharrungskräfte und gewaltvollen Verhältnisse der imperialen Lebensweise ankommen (→ Kapitel: TRANSFORMATION DURCH ESKALATION?).

Wofür und für wen ist dieses Handbuch?

Schon unzählige Menschen haben sich kluge Gedanken zum Thema Transformation gemacht. Leider verstauben viele dieser Ideen und Erkenntnisse in wissenschaftlichen Studien und Sammelbänden. Gleichzeitig haben soziale Bewegungen wertvolle Erfahrungen gesammelt und einzelne Kämpfe für gesellschaftliche Veränderungen gewonnen – und manchmal bleibt wenig Zeit für den Blick aufs große Ganze. Wir wollen in diesem Handbuch beides zusammenbringen – in einer Form, die für linken (Bewegungs-)Alltag brauchbar ist.

Daher ist dieses Handbuch in erster Linie für Aktivist*innen im breiten sozial-ökologischen Bewegungsspektrum gedacht. Wir schreiben für Menschen, die in verschiedenen Kontexten gesellschaftliche Transformation von unten anstoßen und erkämpfen. Wir möchten kleinere und größere Gruppen darin unterstützen, an ihrem politisch-strategischen Wissen zu feilen und ihnen Vokabular und Methoden an die Hand geben, um transformative Strategien zu entwickeln. Strategie

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meint dabei, ein Ziel vor Augen zu haben und den langfristigen Weg dorthin zu planen und zu beschreiten. Der Begriff kommt ursprünglich aus der militärischen Praxis und setzt ein hohes Maß an Planbarkeit voraus. Diese Logiken lassen sich nicht auf emanzipatorische Transformationsprozesse übertragen. Trotzdem glauben wir, dass es für soziale Bewegungen wichtig ist, strategisch zu denken.

Denn vielleicht stellt auch ihr euch folgende Fragen, wenn ihr über die Wirksamkeit eurer Arbeit und eure Theorie gesellschaftlichen Wandels (Theory of Change) nachdenkt: Wo wollen wir hin? Wie erreichen wir eine Vision vom Guten Leben für alle? Und was sind wichtige Hebelpunkte, Handlungsschritte und Fragen auf dem Weg dorthin?

Dieses Handbuch möchte euch dabei helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden und eure Theory of Change zu entwickeln, zu überprüfen und zu schärfen – und zwar speziell mit Blick auf die Frage, wie eure politische Arbeit gegen-hegemoniale Wirksamkeit entfalten kann.

Wie funktioniert das Handbuch?

Ihr findet zu Beginn der Kapitel häppchenweise aufbereitetes Theorie-Wissen und dann einzelne anwendungsbezogene Strategie-Bausteine. In den Bausteinen verweisen wir auf Beispiele aus sozialen Bewegungen und es gibt Tipps, wo ihr euch weiter informieren könnt. Außerdem findet ihr zu allen Strategie-Bausteinen auch Übungen, die ihr allein oder als Gruppe machen könnt. Du kannst das Handbuch von vorne bis hinten durchlesen, oder du pickst dir raus, was dich gerade interessiert. Die Querverweise kannst du nutzen, um die Verbindungen zwischen den einzelnen Strategie-Bausteinen und Themen besser zu verstehen.

Wir hoffen, dass euch dieses Buch unterstützt, über Transformationsstrategien und eure Theory of Change nachzudenken – und loszulegen! Denn: Transformieren ist ein Tu-Wort!

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Du hast eher Fragen zu kurzfristigen Taktiken, also den Mitteln, um deine Strategie umzusetzen? Ihr wollt wissen, wie ihr Gruppentreffen moderieren und Konsensentscheidungen treffen könnt oder konkrete Aktionsplanung vornehmt? Dich interessiert Organisationsentwicklung? Das findest du in diesem Buch nicht. Wir haben jedoch ein paar Hinweise auf andere hilfreiche Quellen zu diesen Fragen gesammelt:

  • 350.org: viele hilfreiche Ressourcen und Materialien, um Wissen zu teilen, Beziehungen aufzubauen und erfolgreich Workshops zu leiten/zu organisieren sowie Webinare und Workshops: de.trainings.350.org
  • Beautiful Trouble: Portal mit Methoden, Geschichten, Theorien, Taktiken und Prinzipien; zusammengestellt von internationalen Aktivist*innen zur Unterstützung von sozialen Bewegungen: beautifultrouble.org
  • Elisabeth Hanzl und Andreas Meier (2021): Handbuch Selbstorganisation. Wie die Zusammenarbeit in Gruppen gelingt; unterstützt bei der Gestaltung von wertschätzenden und bestärkenden Gruppenzusammenhängen:
    handbuch-selbstorganisation.org
  • Interventionistische Linke Berlin, Klima-AG: Solidarity will win. Alles eine Frage der Organisierung. Ratgeberin für Klimabewegte und solche, die es werden wollen; Unterstützung für Gruppenaufbau und Aktionsplanung:
    interventionistische-linke.org/solidarity-will-win
  • Phase5 - kollektive Strategieentwicklung: Kollektiv, das Strategieworkshops und Materialien für Bewegungen anbietet: phase5-kollektiv.org/material
  • Prentis Hemphill und Black Lives Matter Healing Justice Working Group (2018): Chapter Conflict Resolution Toolkit; Unterstützung für achtsamen Umgang mit internen Gruppenkonflikten: blacklivesmatter.com/resources
  • stuhlkreis_revolte: Kollektiv für emanzipatorische Bildungsarbeit und Prozessbegleitung, das Gruppen bei der Organisations- und Projektentwicklung unterstützt: stuhlkreisrevolte.de
  • Urban Equipe und Kollektiv Raumstation (2020): Organisiert euch!; Handbuch mit praktischem Wissen und Tools für den Alltag engagierter Kollektive:
    organisiert-euch.org
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Wer schreibt hier eigentlich?

Wir sind einzelne Menschen aus dem I.L.A. Kollektiv*, die gern über Transformation nachdenken, eine Schwäche für Theorien haben und deren Herz auch für die praktische Arbeit für ein Gutes Leben für alle schlägt. Manche von uns machen Bildungsarbeit, manche lohnarbeiten an der Uni, manche gärtnern und imkern, manche wechseln Windeln. Wir sind in verschiedenen Teilen der gesellschaftlichen Linken aktiv – von der Klimagerechtigkeitsbewegung zu internationalistischen Initiativen, Stadt- und Mietenpolitik zu queerfeministischen Gruppen. Wir bringen unterschiedliche Meinungen ein und sind uns auch nicht immer einig. Manche von uns erfahren in ihrem Alltag regelmäßig Diskriminierung, andere nicht. Es schreiben hier Menschen, die das System kacke finden, darunter auch persönlich leiden und es sehnlichst ändern wollen, die aber trotzdem die meiste Zeit relativ gut darin durchkommen. Wenn wir aus dieser Perspektive und mit diesen Erfahrungen über Systemwandel sprechen, ergeben sich unausweichlich Lücken und Verzerrungen. Wir haben versucht, diesen entgegenzuwirken, indem wir die Geschichten, Erfahrungen, das Wissen, die Einschätzungen und Meinungen vieler Menschen in den Entstehungsprozess des Handbuchs eingebunden haben.

So haben wir dieses Buch nicht alleine geschrieben. Wissen entsteht nicht in erster Linie am Schreibtisch, sondern in der Praxis, im Austausch, in gemeinsamen Erfahrungen. Wir wollen hier bekräftigen, dass dieses Handbuch nicht nur Ergebnis unserer eigenen Beschäftigung mit Strategiearbeit ist, sondern vielmehr auf den Erfahrungen abertausender Menschen basiert, die für ein Gutes Leben für alle gekämpft haben und kämpfen. Wir haben Geschichten recherchiert und niedergeschrieben, engagierte Menschen gefragt und ihnen zugehört, Methoden gesammelt und weiterentwickelt. Auch ganz praktisch haben wir dieses Buch nicht allein verfasst. Wir hatten großartige Unterstützung von vielen Feedback- und Impulsgebenden, die sich verschiedenen sozialen Bewegungen verbunden fühlen. Ein riesiger Dank geht raus an: Afrique-Europe-Interact, Armin Kuhn, Elisabeth Voß und die Redaktion des Trossenstek, Franza Drechsel (Feminist*Dialogues), Franziska Müller (Uni Hamburg), Hannah Engelmann-Gith (Queeres Zentrum Göttingen, I.L.A. Kollektiv), Jael Rollin (Bewegungsstiftung, in our bodies - on the streets, Kommunikationskollektiv), Jannis Eicker (I.L.A. Kollektiv), Jonas Korn (I.L.A. Kollektiv), Jonathan Joosten (Der Laden Weimar), Kai Kuhnhenn und Lasse Thiele (Konzeptwerk Neue Ökonomie), Karen Johne (ATCC), Karin Walther (Projektbegleitung I.L.A. Werkstätten, Bewegungsakademie), Klimagerechtigkeit Kassel – KligK, Lumii (Ende Gelände), Ruth Fartacek (I.L.A. Kollektiv, KAUZ), Sarah Klemm (Dissens – Institut für Bildung und Forschung), Stephan Liebscher, Tino Pfaff (Aktivist), Wiebke Thomas (I.L.A. Kollektiv).
Wir danken Sarah Heuzeroth für die fantastischen Illustrationen und dafür, dass sie Transformation in eine Sprache verpackt hat, die unsere Herzen anspricht. Außerdem danken wir Johanna Ritter und Katharina van Treeck dafür, dass sie durch ihr tolles Lektorat schwierige Inhalte für mehr Menschen zugänglich gemacht haben.

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Dieses Handbuch ist ein Übungsheft für deine und eure Praxis. Die Methoden nehmen daher eine wichtige Rolle ein. Wir haben für die Bausteine bestehende Übungen zusammengetragen, weiterentwickelt oder ganz neue erarbeitet. Auch haben wir versucht, verschiedene Übungstypen zu mischen: Reflexionsfragen, emotionsgeleitete oder körperliche Übungen, aber der Großteil sind kopflastige, analytische Übungen. Sicherlich sind nicht alle Methoden für alle gleich brauchbar. Bitte versteht die Übungen als ein Angebot, das ihr euren Bedürfnissen und Möglichkeiten anpassen könnt.

Angaben zu erforderlicher Zeit und Gruppengröße sind Empfehlungen und nicht strikt zu verstehen. Einige Übungen setzen idealerweise einiges an Material voraus. Aber die meisten Übungen lassen sich auch abgewandelt durchführen, mit weniger Material, anderen Gruppengrößen oder anderen Zeitressourcen. Leider konnten wir an dieser Stelle nicht darauf eingehen, inwiefern die Übungen auch mit digitalen Tools umsetzbar sind.

Bei den meisten Übungen macht es Sinn, für die Durchführung der Übungen eine Person oder ein Team festzulegen, die/das die Übung vorbereitet, durch die Übung führt und sich für die Moderation verantwortlich fühlt. Zum Schluss möchten wir euch noch ermuntern, einzelne Übungen zu verschiedenen Zeitpunkten zu wiederholen und durch die Veränderung Neues über euch und eure Strategien zu lernen.

Falls ihr bei der Anpassung der Übungen Unterstützung braucht, Rückmeldungen habt oder eure Erfahrungen damit mit uns teilen möchtet, schreibt uns gern an: post@ilakollektiv.org

In dieser Rubrik findet ihr Tipps, wo ihr euch weiterinformieren könnt. Wir haben uns bemüht, frei zugängliche Quellen zusammenzutragen. Aber wollen auch auf Hinweise auf manche andere Texte und Quellen nicht verzichten, die wir hilfreich finden. Schaut doch mal bei eurer lokalen Bibliothek, ob ihr sie dort finden könnt. Da sich die Debatten rund um radikale Transformation und Strategien nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränken, sind einige unserer Tipps zum Weiterlesen auf Englisch und Spanisch.

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