Systemisch denken statt Scheuklappenblick

Transformativ handeln bedeutet, nicht nur die Symptome, sondern Ursachen von Krisen zu bekämpfen. Wir erklären das beispielhaft an der Klimapolitik: Symptombekämpfung sieht beispielsweise den CO2-Ausstoß von Autos als Problem fürs Klima und schlägt als Lösung vor, den Verbrenner gegen einen Elek­tromotor auszutauschen. Doch dadurch entstehen unbeabsichtigte Nebenfolgen: Der positive Klimaeffekt wird geschmälert, indem beispielsweise E-Autos häufiger genutzt werden, gerade weil sie vermeintlich umweltfreundlicher sind. Das passiert auch, wenn E-Autos als Zweit- oder Drittwagen zusätzlich angeschafft werden. Und auch wenn alle Autos mit Verbrenner durch E-Autos ersetzt würden, bliebe der Ressourcenverbrauch enorm hoch. So führt beispielsweise die hohe Nachfrage nach Rohstoffen für die Batterien der E-Autos zu mehr Umweltzerstörung und Konflikten im Globalen Süden. Ein systemischer Ansatz hingegen fragt nach tieferliegenden Ursachen und den Zusammenhängen von Herrschaftssystemen.

Beginnen wir also mit dem Kapitalismus. Nehmen wir den kapitalistischen Wachstumszwang als Ursache der Klimakrise in den Blick, dann zeigt sich, dass die Klimakrise nicht nur ein Problem eines Zuviels an CO2 oder veralteter Technologien ist. Klassengesellschaft, soziale Ungleichheit und Ausbeutung sind eng damit verbunden. Weltweit müssen Arbeiter*innen und nicht-menschliche Natur ausgebeutet werden, um Profit zu erwirtschaften. Eine Grundbedingung für den Kapitalismus ist das Patriarchat. Damit Arbeiter*innen überhaupt körperlich und mental fit sind, um zur Arbeit zu gehen, muss irgendwer Sorge-Arbeiten leisten, wie Kochen, Putzen und Gesundpflegen. Im Patriarchat müssen mehrheitlich Frauen* diese nicht oder schlecht entlohnten Arbeiten übernehmen. Wenn wir über den Tellerrand der Symptombehandlung blicken, wird auch sichtbar, dass die Klimakrise mit (Neo-)Kolonialismus zusammenhängt. Der ressourcenintensive Kapitalismus konnte sich nur so rasant ausbreiten, weil Europäer*innen sich mittels Gewaltherrschaft in kolonisierten Gebieten Ressourcen angeeignet, Menschen als billige Arbeitskraft versklavt und existierende lokale Märkte und Handelsbeziehungen zerstört haben. Die Unterdrücker aus Europa schufen rassistische Ideologien, um die Menschen aus den kolonisierten Gebieten systematisch abzuwerten und so die Gewalt und die kapitalistische Ausbeutung zu rechtfertigen. Auch wenn formal die Zeit der Kolonialreiche vorbei ist, bestehen koloniale Beziehungen in veränderter Form fort. Sie zeigen sich etwa darin, dass große Konzerne aus dem Globalen Norden die Ressourcen in Ländern des Globalen Südens ausbeuten oder dass Institutionen wie die Weltbank, Internationaler Währungsfond oder Welthandelsorganisation Staaten des Südens in Abhängigkeit drängen.

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Was wir hier beispielhaft an der Klimakrise verdeutlicht haben, gilt auch für andere Krisenerscheinungen: Haben wir die systemischen Zusammenhänge vor Augen, ist es leichter Hebelpunkte für transformative Forderungen zu identifizieren (→ Bausteine: REALPOLITIK REVOLUTIONÄR GESTALTEN und KÄMPFE VERBINDEN) und intersektional zu handeln (→ Baustein: ­INTERSEKTIONAL HANDELN).

Beispiel: WoMin - Gegen Bergbau, Patriarchat und Kapitalismus

Women Against Mining (WoMin) ist ein afrikaweites ökofeministisches Bündnis, das sich gegen zerstörerische Bergbau- und Energieprojekte und destruktive Entwicklungsmodelle wehrt. In ihrer Analyse und in ihrem Vorgehen haben die Aktivistinnen* von WoMin einen systemischen Blick. Sie verknüpfen den Schutz der Umwelt und der von Megaprojekten betroffenen Gemeinschaften mit feministischen Anliegen, Kapitalismuskritik und dekolonialen Bestrebungen. WoMin kritisiert den Expansions- und Ausbeutungscharakter des globalen Kapitalismus, dessen Ressourcenhunger immer größer wird. WoMin verknüpft dies mit einer Kritik an der neokolonialen Arbeitsteilung, die afrikanische Länder zu Rohstofflagern herabstuft. Außerdem kritisieren sie eine patriarchale Arbeitsteilung, in der Frauen sich um die häusliche Nahrungsmittel-, Wasser- und Energieversorgung kümmern müssen und somit besonders mit deren Beeinträchtigungen durch Klimakrise und Umweltzerstörung zu kämpfen haben. In der Praxis unterstützt WoMin die Organisierung von Frauen gegen Megaprojekte, wie etwa den Ausbau des Inga-Staudamms im Kongo oder den Neubau eines Kohlekraftwerks in Sendou an der senegalesischen Küste. Ihr systemischer Aktivismus zielt nicht nur darauf ab, einzelne Megaprojekte zu verhindern oder diese sozial- und umweltverträglicher zu gestalten, sondern systemische Alternativen jenseits von Kapitalismus, Patriarchat und Neokolonialismus zu verwirklichen. Das bedeutet, konkret an den Orten der Zerstörung eine gerechte, demokratische und ökologische Energieversorgung aufzubauen und die afrikaweite Vernetzung von Bewegungen und Organisationen für Klimagerechtigkeit voranzubringen.

Übung: Systemkarten

Einleitung

Die folgende analytische Gruppenübung hilft euch, systemische Zusammenhänge zu erfassen. Beim Systems Mapping, also der Entwicklung von Systemkarten, werden die Elemente des Systems, das ihr verändern wollt, identifiziert. Außerdem kommen die Beziehungen zwischen den Elementen und Hebelpunkte für systemische Veränderungen in den Blick.

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  • Ca. 90 Minuten
  • 2-8 Personen, bei größeren Gruppen empfiehlt es sich, an mehreren Systemkarten zu arbeiten und diese im Anschluss gemeinsam zu besprechen
  • Ein sehr großer Papierbogen (zum Beispiel zwei FlipchartPapiere aneinandergeklebt) Mehrere Stifte, am besten in 4 Farben
  • Eventuell Moderationskarten oder Klebezettel in zwei Farben

Ablauf

Die Methode besteht aus sechs Schritten:

1. Identifiziert das System (10 Minuten)
Macht euch klar, welches Problem ihr angehen wollt, und benennt ein System, das dahinter­steckt. Ihr arbeitet zur Ausgrenzung von queeren Personen in ärztlichen Praxen? Das System dahinter lässt sich beispielsweise als „patriarchales Gesundheitssystem“ benennen. Wenn ihr in wohnungspolitischen Kämpfen aktiv seid, könnte euer System beispielsweise „profitorientierter Wohnungsmarkt“ lauten. Ihr seid aktiv zur Situation von migrantischen Saisonarbeiter*innen? Das System dahinter lässt sich als „rassis­tisches Arbeitsregime“ benennen. Ihr könntet sicherlich verschiedene Systeme identifizieren. Auch wie breit oder eng ihr das System fasst, entscheidet ihr. Wir empfehlen, das System möglichst eng zu fassen („patriarchales Gesundheitssystem“ statt „Patriarchat“). Entscheidet euch gemeinsam für ein System und schreibt es groß in die Mitte des Papiers.

2. Ideastorming (20 Minuten)
Fragt euch nun: Welche Elemente stabilisieren das System, das wir identifiziert haben? Sammelt in Bezug auf euer Themen­feld diese stabilisierenden Elemente. Elemente können ganz unterschiedlicher Art sein: Organisationen (etwa ein Wohnungskonzern), Institutionen (etwa eine Behörde), Indivi­duen (etwa ein*e Politiker*in), Diskurse (etwa von Sorgearbeit als sogenannter ‚Frauenarbeit‘), Praktiken (etwa Racial Profil­ing), Infrastrukturen (etwa Parks, Straßen, Wohnflächen), Techno­logien (etwa Überwachungsdatenbanken), Algorithmen (etwa zur Gesichtserkennung) und nicht-menschliche Akteure (etwa geschützte Tierarten). Schreibt alle Elemente auf, die euch in den Sinn kommen. Es gibt an dieser Stelle kein richtig oder falsch. Natürlich werden Dinge fehlen, keine Systemkarte wird jemals komplett sein. Das ist ok. Schreibt alle Elemente, die euch in den Sinn kommen, rund um euer System auf das Papier. Wenn ihr Moderationskarten oder Klebezettel habt, schreibt die einzelnen Elemente gern darauf und ordnet sie um das System herum an.

3. Gewichtung (10 Minuten)
Schaut euch die Elemente eures Systems an und diskutiert, welche ihr für besonders relevant haltet für die Stabilisierung des Systems. Umrandet diese Elemente mit einem farbigen Stift. Wenn ihr mit Moderationskarten oder Klebezetteln arbeitet, ordnet diese Elemente näher an dem System an als die anderen Karten.
Nehmt euch 5 Minuten Zeit zum Durchschütteln und Durchatmen.

4. Systemische Zusammenhänge (15 Minuten)
Diskutiert dann, wie die verschiedenen Elemente zusammenhängen. Konzentriert euch vor allem auf die besonders relevanten Elemente. Zeichnet Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Elementen ein, die sich gegenseitig beeinflussen. Wenn ein Element ein anderes verstärkt, verbindet beide Elemente mit einem Pfeil und markiert diesen Pfeile mit einem Plus-Zeichen (+). Wenn ein Element ein anderes schwächt, verbindet die Elemente mit einem Pfeil und markiert diesen mit einem Minus-Zeichen (-). Alternativ könnt ihr auch unterschiedliche Farben für die verstärkenden oder schwächenden Pfeile nutzen.

5. Hebelpunkte (15 Minuten)
Hebelpunkte sind diejenigen Stellen im System, an denen kleine Veränderungen große Effekte auf das gesamte System haben können. Diskutiert, an welchen Stellen diese

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Hebelpunkte in eurem System sind. Schreibt die Hebelpunkte in einer neuen Farbe an die Stellen, wo sie wirken können. Wenn ihr mit Karten oder Zetteln arbeitet, könnt ihr auch die Hebelpunkte auf andersfarbige Karten/Zettel schreiben und an die entsprechende Stelle legen.

6. Erntezeit (15 Minuten)
Tretet einen Schritt zurück und schaut euch eure Systemkarte an. Sie wird vermutlich sehr voll sein und chaotisch aussehen. Systeme sind chaotisch. Haltet noch einmal gemeinsam fest, wo die Hebelpunkte im System liegen. Was nehmt ihr daraus mit? Wie fühlt ihr euch nach der Systemkartierung? Was kam in den Blick, was ihr sonst vielleicht übersehen hättet? Was fehlt noch? Wie können diese Erkenntnisse in eure Strategie- und Aktionsplanung einfließen? Denkt daran, ein Bild von eurer System-Karte zu machen und gemeinsame Erkenntnisse festzuhalten.

Hinweis

Um zu diskutieren, wie ihr eure identifizierten Hebel bedienen könnt, könnt ihr an diese Übung gut mit den Übungen Pillars of Power und Points of Intervention anknüpfen (→ Baustein: KÄMPFEN STATT APPELLIEREN).

Quelle der Übung

Systemkartierungen unterschiedlicher Art sind geläufige Übungen bei systemischen Ansätzen. Eine ähnliche, aber ausführlichere Form findet ihr beispielsweise im unten verlinkten „Systems Thinking Workbook“ von Smart CSOs auf den Seiten 12 bis 17.

Zum Weiterstöbern

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