Intersektional handeln

Intersektionalität ist ein wichtiges Analyse- und Reflexionskonzept, an dem sich aktivistische Gruppen, die transformativ wirken wollen, orientieren können (→ Kapitel: TRANSFORMATION HEISST SYSTEM CHANGE). Warum? Intersektionalität rückt in den Blick, wie unterschiedliche Formen von Macht, Unterdrückung und Privilegien entstehen und zusammenwirken. Beispielsweise gestaltet sich die Wohnungssuche schwierig, wenn neben niedrigem Einkommen der eigene Name nicht Meier oder Müller ist. Rassismus und Klassismus wirken so auf dem Wohnungsmarkt zusammen. Dies führt dazu, dass Menschen, die solche Mehrfachdiskriminierungen erfahren, häufig in beengten Wohnverhältnissen und in Gegenden mit hoher Lärm- und Feinstaubbelastung leben.

Mit einer intersektionalen Brille wird sichtbar, auf welche Weise uns und unsere Gesellschaft rassistische, antisemitische, klassistische, sexis­tische, heteronormative, ableistische und andere Herrschaftsverhältnisse durchziehen, sich überlagern und miteinander verwirren. In Anlehnung an die feministische Marxistin Frigga Haug sprechen wir hier auch von einem „Herrschaftsknoten“.6 Dabei sind mehrere Fäden, die Herrschaftsverhältnisse symbolisieren, ineinander verknotet. Wie bei einem Knäuel kommt es darauf an, nicht nur an einem Faden zu ziehen und so den Knoten unter Umständen noch fester zuzuziehen. Wenn beispielsweise nur an einem Strang gezogen wird und Betriebsräte im Arbeitskampf Arbeitszeitverkürzung oder Lohnerhöhungen für die Stammbelegschaft fordern, verschärft sich der Druck auf die oftmals rassistisch abgewerteten und kapitalistisch ausgebeuteten Leiharbeiter*innen. Andererseits verschärft sich die Situation, wenn allein die Situation der Leiharbeiter*innen verbessert wird, indem sie beispielsweise mehr Stunden im Betrieb angestellt werden. Denn das führt oftmals dazu, dass die Stammbelegschaft ihre Arbeit und jahrelange Erfahrung als entwertet wahrnimmt. Gleichzeitig erhöht sich der Druck auf Frauen*, die in vielen Fällen einen noch größeren Teil der unbezahlten Sorgearbeit im Haushalt übernehmen müssen. Die kapitalistische Herrschaftsstrategie von Spalten der Beherrschten, Konkurrenzaufbau und Ausbeutung geht auf und der Herrschaftsknoten verstärkt sich.

Wenn wir davon sprechen, den Herrschaftsknoten aufzulösen, geht es nicht darum, verschiedene Identitäten, gesellschaftliche Positionierungen oder Differenzierungen, durch die wir von unterschiedlichen, sich verstärkenden Herrschaftsverhältnissen betroffen sind, fein säuberlich voneinander zu trennen. Vielmehr geht es darum, anzuerkennen, dass wir diese verworrenen Herrschaftsverhältnisse nur gemeinsam auflösen können.

6 Frigga Haug (2013): Herrschaft als Knoten denken

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Frigga Haug es formuliert: „Die Lösung des Herrschaftsknotens ist daher nicht nur eine unerhört langfristige und komplizierte Arbeit. Sie kann nur in allen Bereichen zugleich begonnen werden und braucht die Kraft und die Zeit der Vielen.“

Die Rechtsprofessorin Mari Matsuda beschreibt, dass es darum geht, „die andere Frage zu stellen: Wenn ich etwas sehe, das rassistisch aussieht, frage ich: Wo ist das Patriarchat darin? Wenn ich etwas sehe, das sexistisch aussieht, frage ich: Wo ist der Heterosexismus darin? Wenn ich etwas sehe, das homophob aussieht, frage ich: Wo sind die Klasseninteressen?“7 Eine intersektionale Brille muss schon bei der Problemanalyse aufgesetzt werden. Denn die Unterdrückungsmuster, welche durch eine intersektionale Perspektive in den Blick kommen, durchdringen alle Bereiche, in denen soziale Bewegungen sich für Gerechtigkeit einsetzen – sie durchdringen auch Bewegungen selbst. Eine intersektionale Analyse verdeutlicht auch die Bedeutung solidarischer Beziehungen innerhalb von Bewegungen und zu anderen Kämpfen, Gruppen und Bewegungen. Der Herrschaftsknoten lässt sich nur auflösen, wenn wir miteinbeziehen, wie Privilegien und Benachteiligungen zusammenspielen (→ Baustein: ZU VERBÜNDETEN UND KOMPLIZ*INNEN WERDEN).

Für uns selbst und die Kontexte, in denen wir aktiv sind, stellen sich daher folgende Fragen: Welche Privilegien und Diskriminierungserfahrungen sind in der eigenen Gruppe vorhanden? Welche Rollen werden von wem eingenommen? Wer ist in unserer Gruppe nicht vertreten? Welche Barrieren existieren, die erschweren, dass andere Menschen sich

7 Mari Matsuda (1991): Beside my sister, facing the enemy: Legal theory out of coalition. In: Stanford Law Review: 43, S. 1183-1192.

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beteiligen? Mit einem Blick auf die eigene Gruppe werden Leerstellen sichtbar und eine Auseinandersetzung mit Privilegien und Diskriminierung wird möglich. Sich mit Intersek­tionalität auseinanderzusetzen, bedeutet, den aktivistischen Alltag der eigenen Gruppe zu reflektieren. Das kostet Zeit, Ressourcen und Energie; es kann schmerzhaft und nervenaufreibend sein, sich mit den eigenen Privilegien und Leerstellen auseinanderzusetzen; es kann zu Konflikten innerhalb der Gruppe führen. Doch innere Veränderungen sind wichtig, um nach außen zu wirken und intersektionale Solidarität tatsächlich zu leben. Das Ziel ist, eine macht- und diskriminierungssensible Praxis zu entwickeln. Dieser Blick nach innen, die Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Positionierung und der Gruppenzusammensetzung bildet eine wichtige Voraussetzung, um mit diesem Bewusstsein intersektionale politische Strategien zu entwickeln. Diese Strategien können dann dazu beitragen, Kämpfe zu verbinden und intersektionale Herrschaftsstrukturen zu überwinden.

Beispiel: YFoEE - auf dem Weg zur einer intersektionalen Jugendumweltbewegung

Eine durch intersektionale Perspektiven inspirierte politische Praxis ist bei den Young Friends of the Earth Europe (YFoEE) zentral geworden, einem Netzwerk aus jungen, umweltbewegten Aktivist*innen in Europa. Wie viele in der Umweltbewegung des Globalen Nordens kommen die meisten aus bürgerlichen Familien und studieren an einer Uni. Seit 2015 setzen sich die YFoEE-Aktivist*innen mit Intersektionalität auseinander – mit dem Ziel, eine inklusivere Bewegung zu schaffen. Eine Aktivist*in blickt zurück: „Wir wollten die typische Blase privilegierter europäischer Studierender verlassen und mehr darüber lernen, wie wir unsere Privilegien nutzen können [...], da wir verstanden hatten, dass wir nicht die ersten sein würden, die die Konsequenzen des Klimawandels zu tragen haben.“8 Die Ergebnisse dieses Prozesses flossen in ein Manifest für Gleichheit und Interkulturalität ein. Um das Manifest mit Leben zu füllen, organisierten die Aktivist*innen in den Folgejahren internationale Camps und Multiplikator*innen-Workshops zum Thema Intersektionalität und verfassten ein Toolkit für intersektionale Bewegungsarbeit. Außerdem fanden Workshops in verschiedenen Ländern statt, in denen intersektionale Perspektiven – angepasst an die jeweiligen Länderkontexte – erarbeitet wurden. Im Manifest heißt es, dass Intersektionalität aus zwei Gründen für YFoEE wichtig wurde: „Erstens hilft es zu analysieren, wie Macht- und Herrschaftsverhältnisse Gruppen von Menschen unterschiedlich betreffen, so dass wir deren Mechanismen besser verstehen können. Und zweitens hilft uns Intersektionalität zu sehen, wie unterschliche Kämpfe für Gerechtigkeit verbunden sind und es daher Solidarität zwischen sozialen Bewegungen braucht.“9

8 Živile (2018): Young Friends of the Earth Europe‘s journey. In: Young Friends of the Earth Europe: Toolkit for Intersectional Movement Building, S. 10.

9 Young Friends of the Earth Europe (2018): Toolkit for Intersectional Movement Building, S. 6.

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Übung: Ich/Ich nicht

  • Teil 1: 30-60 Minuten (je größer die Gruppe/der Austauschbedarf, desto mehr Zeit braucht die Methode)
  • Optional Teil 2: 60 Minuten
  • Idealerweise 8-20
  • Teil 1: 2 gut sichtbare Papierbögen, beschriftet mit „ich“ und „ich nicht“
  • Teil 2: mehrere große Papierbögen (mindestens A3) und Stifte

Einleitung

Die folgende Übung dient der Reflexion und dem Austausch in der Gruppe. Verschiedene Fragen können ein erster Schritt sein, um in eurer Gruppe über unterschiedliche Betroffenheiten von Macht- und Herrschaftsstrukturen ins Gespräch zu kommen.

Die Methode arbeitet mit persönlichen Fragen. Daher ist es wichtig, in der Gruppe eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich alle wohl fühlen. Auch könnt ihr betonen, dass es ausdrücklich erlaubt ist, bei dieser Methode zu lügen, wenn sich Menschen damit wohler fühlen. Der Austausch und die Auseinandersetzung basiert stets auf Freiwilligkeit – keine*r muss etwas sagen! Vermeidet in eine Bewertung oder in einen Vergleich von Erfahrungen zu gehen. Auch wenn wir auf sehr unterschiedliche Weise von Herrschaftsverhältnissen betroffen sind, kann es geteilte Erfahrungen geben.

Ablauf - Teil 1

Hängt die beiden Plakate mit „Ich“ und „Ich nicht“ auf zwei gegenüberliegenden Seiten eines Raumes auf. Eine Person wird eine Reihe an Fragen vorlesen. Nach den Fragen aus der Liste können Menschen aus der Gruppe noch weitere Fragen ergänzen – sofern die Fragen für alle in der Gruppe ok sind. Stellt euch nach jeder Frage entsprechend eurer Antwort auf die eine oder die andere Seite des Raumes. Verweilt nach jeder Frage einen Moment in dieser Konstellation und nehmt euch Zeit, über die Frage und eure Positionen ins Gespräch zu kommen. Achtet darauf, dass ihr nicht zu viele Fragen sammelt, damit genug Zeit und Aufmerksamkeit für die Nachbesprechung bleibt.


Hier sind mögliche Fragen:

  • Wer arbeitet in dem Beruf, den er*sie gelernt hat?
  • Wer hat die Staatsangehörigkeit des Landes, in dem er*sie lebt?
  • Wer fühlt sich gesellschaftlich diskriminierten Gruppen zugehörig?
  • Wer kann seine*ihre berufliche und finanzielle Zukunft für die nächsten fünf Jahre sicher planen?
  • Wer hat in dem Haushalt, in dem er*sie aufgewachsen ist, mehr als 50 Bücher?
  • Wer fühlt sich manchmal in der Stadt, in der er*sie lebt, unsicher?
  • Wer fühlt sich stark von anderen Menschen abhängig, um pünktlich und am Ort eurer Gruppentreffen zu erscheinen?
  • (Weitere Fragen aus der Gruppe, die von der Gruppe akzeptiert werden.)
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Nachdem ihr mit den Fragen durch seid, nehmt euch die Zeit und Möglichkeit, Erlebnisse und Sorgen zu einzelnen Fragen zu teilen. Hier ein paar Anregungen für den Austausch:

  • Wie war es, alleine auf einer Seite zu stehen?
  • Wie war es, in einer großen Gruppe auf einer Seite zu stehen?
  • Was ist euch besonders aufgefallen? Was hat euch überrascht?
  • Haben alle Fragen für euer Leben die gleiche Bedeutung?
  • Gibt es weitere Aspekte, die für euer Leben und eure Positionierung in Gesellschaften wichtig sind, die durch die Fragen nicht berührt wurden?
  • Warum sind welche Zugehörigkeiten von Bedeutung?
  • Gibt es Unterschiede zwischen den subjektiven und den gesellschaftlichen Bewer­­­t­ungen der verschiedenen Zugehörigkeiten?

Hinweis

Besprecht in Ruhe in der Gruppe, ob ihr diese Methode miteinander anwenden wollt und sie für alle stimmig ist. Manchmal kommt es zu Dynamiken, in denen stärker marginalisierte Menschen ihren privilegierteren Mitstreiter*innen die Welt und ihre Machtungleichheiten am Beispiel der eigenen Biographie erläutern (müssen). Das kann eine sehr anstrengende Rolle sein, an deren Ende die Bevorteilten einen Lernzuwachs erfahren und die Benachteiligten vor allem Aufklärungsarbeit geleistet haben. Generell gilt bei der Auseinandersetzung mit Intersektionalität: Alle sollten ihre Hausaufgaben machen und sich nach ihren Möglichkeiten selbst bilden (lest zum Beispiel Bücher, hört Podcasts oder besucht Workshops).

Ablauf - Teil 2

In Teil 1 habt ihr überlegt, welche gesellschaftlichen Zugehörigkeiten, Privilegien und Diskriminierungserfahrungen Menschen in der Gruppe erfahren. Dieser Austausch bietet eine gute Grundlage, um über eure Gruppenzusammensetzung, Barrieren und Herausforderungen ins Gespräch zu kommen. Folgende Fragen können euch helfen, in einen Austausch dazu zu kommen: Welche geteilten Erfahrungen habt ihr trotz eurer individuellen Positionen? Welche gesellschaftlichen Positionierungen und Erfahrungen sind stärker vertreten? Welche sind weniger vertreten oder fehlen? Wie fühlt ihr euch damit? Was wünscht ihr euch? Welche Barrieren gibt es in eurer Gruppe? Für wen ist es schwierig, in der Gruppe zu Wort zu kommen? Wen sprecht ihr an, wen nicht? Wem fehlen welche Ressourcen, um sich bei euch einzubringen oder für wen ist es schwieriger und anstrengender? Wie könnt ihr das ändern? Ihr könnt euch Tee kochen und einfach in ein lockeres Gespräch über diese Fragen kommen. Alternativ könntet ihr auch probieren, über ein anonymes, stilles Schreibgespräch in einen Austausch zu kommen. Schreibt dazu einige der Fragen, die euch besonders interessant erscheinen, auf große Papierbögen und legt Stifte aus. Danach können alle, während einer stillen Phase, ihre Gedanken zu den Fragen aufschreiben oder auf­malen, herumgehen, andere Gedanken lesen, darauf reagieren. Überlegt euch gemeinsam, ob und wie ihr diesen Austausch auswerten wollt. Ihr könnt nächste Schritte vereinbaren, die Übung zu einem anderen Zeitpunkt wiederholen oder auch einfach als Impuls für weitere Strategieüberlegungen und beispielsweise als Grundlage zur Auseinandersetzung mit anderen Bausteinen für sich stehen lassen.

Quelle der Übung

Die Methode „ich/ich nicht“ wurde entwickelt von der Anti-Bias-Werkstatt und von uns leicht angepasst und findet sich auf dem Portal Intersektionalität.

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Zum Weiterstöbern

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