Transformation heißt System Change

Transformation ist in aller Munde. Alle wollen Transformation, aber nicht alle meinen dasselbe: Warum Transformation innerhalb bestehender Strukturen nicht funktioniert, sondern die Strukturen selbst transformiert werden müssen und warum Transformation antikapitalistisch, intersektional und internationalistisch sein sollte.

Transformation ist ein Buzzword – längst nicht mehr nur in der ökologisch interessierten Szene. Aber nicht alle Akteur*innen meinen damit dasselbe. Das wird schon daran deutlich, dass von der SPD über die deutsche Bischofskonferenz bis hin zum Anti-Kohle-Bündnis Ende Gelände viele sehr unterschiedliche Akteur*innen den Begriff Transformation nutzen. Der Begriff verbreitet sich rasend schnell, doch nicht immer sind damit systemkritische Inhalte verbunden.

„Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.” Der vielzitierte Ausspruch des Kulturwissenschaftlers Frederic Jameson gilt auch für die Transformationsdebatte. Obwohl viele anerkennen, dass wir in Zeiten tiefer sozialer, ökologischer, ökonomischer und politischer Krisen leben, gehen die Antworten auf diese Krisen oft nicht über kleine, schrittweise Veränderungen innerhalb bestehender Institutionen und Systemlogiken hinaus. Der Kapitalismus soll begrünt werden, neue Technologien sollen Heilsbringerinnen sein und engagierte Unternehmen und Staaten sollen es richten. Ausgeblendet werden dabei systemische Krisenursachen, die im Kapitalismus und in patriarchalen, rassistischen und neokolonialen Herrschaftsverhältnissen liegen.

Wie verwenden wir, die Autor*innen dieses Handbuchs, den Begriff der Transformation? Wir folgen einem kritisch-emanzipatorischem Verständnis von Transformation als Systemwandel oder System Change. Kritisch, weil Transformation für uns bei der Analyse und Kritik der systemischen Krisenursachen ansetzt. Emanzipatorisch, weil es uns um das Gute Leben für alle geht und darum, Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung weltweit zurückzudrängen und zu überwinden. System Change, weil wir für eine emanzipatorische Transformation einen umfassenden Wandel hin zu einer Vielzahl an solidarischen Lebensweisen notwendig halten und wir uns nicht mit Schönheitskorrekturen an der imperialen Lebensweise zufriedengeben. Im Folgenden stellen wir drei Leitprinzipien einer emanzipatorischen Transformation vor, die wir für zentral halten: Anti-Kapitalismus, Intersektionalität und Internationalismus.

Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die sich durch Konkurrenz und grenzenloses Wirtschaftswachstum auszeichnet. Der Kapitalismus basiert auf einer Klassengesellschaft, in der einige wenige Menschen viel Reichtum anhäufen, indem sie viele andere für sich arbeiten lassen und dabei Menschen und nicht-menschliche Natur ausbeuten. Um konkurrenzfähig zu bleiben, müssen Unternehmen zum einen ihre Kosten niedrig halten. Das schaffen sie, indem sie Löhne drücken, den Arbeitsdruck erhöhen und Arbeitsunterbrechungen verhindern. Zum anderen müssen Unternehmen unter Konkurrenzdruck stetig expandieren, wodurch ein Drang zum grenzenlosen Wirtschaftswachstum entsteht. Die Kosten ihres Wirtschaftens wälzen Unternehmen schließlich auf unterdrückte Gruppen und die natürliche Mitwelt ab. Konkurrenz, Expansion und Ausbeutung von Mensch und nicht-menschlicher Natur gehören zu den Systemlogiken des Kapitalismus.

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Auch ein sogenannter grüner Kapitalismus folgt diesen Systemlogiken und bietet keinen Ausweg aus den vielfältigen Krisen unserer Zeit. Denn auch grünes Wachstum hat einen immer steigenden Ressourcenbedarf und führt zu sozialen und ökologischen Kosten, etwa durch den Bergbau für scheinbar klimafreundliche Technologien, die weiterhin benachteiligte Gegenden und Gruppen tragen. Eine Transformation, die die Klimakrise eindämmt, soziale Ungleichheiten verringert und ein Gutes Leben für alle ermöglicht, ist daher anti-kapitalistisch (→ Baustein: SYSTEMISCH DENKEN STATT SCHEUKLAPPENBLICK).

Kapitalismus wirkt mit anderen Herrschaftssystemen, wie Patriarchat, Kolonialismus, Ableismus und Speziesismus, zusammen. Diese verschränkten Herrschaftssysteme erlauben imperialistischen Staaten und Konzernen zu geringen Kosten auf billig gemachte Natur und Arbeit zuzugreifen. Dazu gehören die Ausbeutung von Menschen, die gewaltvolle Aneignung von natürlichen Ressourcen durch Kolonialismus und Imperialismus und die un- beziehungsweise unterentlohnte und häufig unsichtbar gemachte Sorgearbeit von Frauen, und vor allem Migrantinnen, in der patriarchalen Arbeitsteilung. Diese miteinander verwobenen Herrschaftssysteme haben in einer langen Geschichte der Unterdrückung Institutionen und Denkweisen hervorgebracht, die Menschen in binäre Kategorien einordnen und eine Hierarchie innerhalb dieser Kategorien etablieren (weiß>Schwarz, männlich>weiblich, hetero>homo, und viele andere mehr). Dadurch wird die Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung von Menschen, die als minderwertig gekennzeichnet und in untergeordnete Kategorien gesteckt werden, gerechtfertigt. Die Dekolonisierung der kapitalist­ischen Moderne hinterfragt das Fortschritts- und Entwicklungsdenken und öffnet die Tür hin zu einer Vielzahl an solidarischen Gesellschaftsentwürfen, die nebeneinander existieren können. In der dekolonialen Debatte wird dafür häufig der Begriff eines „Pluriversums“ verwendet oder in den Worten der indigenen Befreiungsbewegung der Zapatistas: „Eine Welt, in der viele Welten Platz finden.“3

3 Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) (1996): Cuarta declaración de la selva Lacandona.

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Der Begriff Intersektionalität hilft dabei, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen For­men der Ungleichheit, Unterdrückung und Ausbeutung sichtbar zu machen, um deren Ursachen zu bekämpfen. Einen seiner Ursprünge hat das Konzept in den späten siebziger Jahren im Umfeld des Schwarzen Feminismus in den USA. Das Combahee River Collective, eine Gruppe Schwarzer, lesbischer und sozialistischer Feminist*innen, prangerte sowohl Rassismus in der weißen feministischen Bewegung wie auch Sexismus, Homofeindlichkeit und Machismus in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung an. Einige Jahre später prägte die Juristin Kimberlé Crenshaw den Begriff der Intersektionalität. Dieser kann erklären, wie Unterdrückungssysteme wie Sexismus, Rassismus und Kapitalismus ineinandergreifen, zusammenwirken und bekämpft werden können.4 Für uns bedeutet eine intersektionale Perspektive auf Transformation einerseits, uns mit unseren eigenen gesellschaftlichen Positionen auseinanderzusetzen. Andererseits meint sie, anzuerkennen, wie Macht und Herrschaft im Kapitalismus mit verschiedenen Diskriminierungsformen zusammenwirken und das Gute Leben für alle verhindern. Um nicht bei dieser Anerkennung stehen zu bleiben, müssen wir Unterdrückungs­systeme, die uns und andere betreffen, aktiv überwinden (→ Baustein: INTERSEKTIONAL HANDELN). Daraus ergibt sich auch, sich mit Menschen, die gegen Unterdrückungssysteme kämpfen, unter denen wir nicht direkt leiden, zu solidarisieren und uns ihrem Kampf gegen Unterdrückung anzuschließen. Dadurch weitet sich auch der Blick auf neue Allianzen. Nur vielfältige, miteinander solidarische Bewegungen von unten können die große Aufgabe der Transformation gemeinsam schaffen (→ Baustein: KÄMPFE VERBINDEN).

Da Kapitalismus und Imperialismus globale Herrschaftssysteme sind, ist auch eine emanzipatorische Transformation global. Sonst drohen transformative Vorhaben lediglich Inseln des Guten Lebens für wenige in einem Meer von Ungleichheit zu schaffen. Deswegen ist die Solidarität von global vernetzten internationalistischen Bewegungen wichtig. Internationalismus und globale Solidarität haben mehrere Gesichter. Beides bedeutet, solidarische Beziehungsnetze mit emanzipatorischen Akteur*innen weltweit aufzubauen. Es kann darum gehen, Informations- und Solidaritätsarbeit zu Befreiungskämpfen an anderen Orten, wie in Chiapas oder Rojava, zu machen. Eine andere Form kann sein, praktischen Widerstand vor Ort zu leisten, der mit Kämpfen andernorts verbunden ist, beispielsweise durch Protestaktionen gegen Menschenrechtsverletzungen vor hiesigen Konzernzentralen. Globale Transformation bedeutet, emanzipatorische Kämpfe an einem Ort mit emanzipatorischen Kämpfen an anderen Orten zusammenzudenken. In der globalen Transformation verbünden sich Aktivist*innen, die im Globalen Norden und Globalen Süden für ein Gutes Leben für alle kämpfen. Dabei sollte es allerdings Aktivist*innen aus dem Globalen Norden nicht um Wohltätigkeit gehen, sondern um Solidarität (→ Baustein: ZU VERBÜNDETEN UND KOMPLIZ*INNEN WERDEN). Es ist wichtig, die Unterschiede zwischen Aktivist*innen weltweit zu sehen und zu respektieren, die unterschiedlichen Bedingungen des Aktivismus anzuerkennen und sich gleichzeitig von der gemeinsamen Vision einer herrschaftsfreien und global gerechten Welt leiten zu lassen. In der Broschüre „Diversity on Common Ground“5 heißt es dazu: „Wenn wir unsere eigenen Träume in den Träumen der anderen erkennen, wird uns klar, dass die Distanz zwischen uns kleiner ist, als wir denken.“ Doch damit Zusammenkämpfen wirklich funktioniert, müssen wir uns auch mit den Spuren, die der Kolonialismus in uns hinterlassen hat, auseinandersetzen. Das Denken zu dekolonisieren bedeutet, koloniale Mentalitäten, die verinnerlicht wurden und die sich als vermeintliche Überlegenheit westlicher Kultur, Werte und Verhaltensweisen ausdrücken, zu verlernen und zurückzudrängen. Letztendlich geht es darum, dass wir uns für einen mitunter auch schwierigen und schmerzhaften (Ver-)Lernprozess öffnen, um Perspektiven zu schaffen für ein gemeinsames Kämpfen: nicht für andere, sondern mit anderen, und über Grenzen hinweg für eine globale Transformation.

4 Combahee River Collective (1977): Combahee River Collective Statement

5 Franza Drechsel und Caroline Kim (Hrsg.) (2020): Diversity on Common Ground. Ten Perspectives on Contemporary Feminism

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Zum Weiterstöbern

  • Ashish Kothari, Ariel Salleh, Arturo Escobar, Federico Demaria und Alberto Acosta (Hrsg.) (2019): ­Pluriverse. A Post-Development Dictionary. Tulika & Authors Upfront.
    BUKO (2003): Radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke. Assoziation A.
  • Erik Olin Wright (2019): Linker Antikapitalismus im 21. Jahrhundert. Was es bedeutet, demokratischer Sozialist zu sein. VSA.
  • Kimberly Crenshaw (1991): Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color. In: Stanford Law Review, 43 (6), S. 1241-1299.
  • Leah Thomas (2022): The Intersectional Environmentalist. How to Dismantle Systems of Oppression to Protect People + Planet. Voracious.
  • Vishwas Satgar (Hrsg.) (2018): The Climate Crisis. South African and Global Democratic Eco-Socialist Alternatives. Wits University Press.
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