Realpolitik revolutionär gestalten

Bei einem Blick in die Zeitung, beim Durchscrollen der Social-Media-Timeline oder bei einer Diskussion mit Freund*innen über den Zustand der Welt weiß mensch gar nicht, welcher Missstand zuerst angegangen werden sollte. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich häufig, dass eine wirkliche Lösung vieler Probleme innerhalb des jetzigen Systems kaum möglich ist und es einen umfassenden Systemwandel braucht (→ Baustein: SYSTEMISCH DENKEN STATT SCHEUKLAPPENBLICK). Doch wie soll das gehen? Und ist dann alles, was nicht direkt auf einen solchen Systemwandel abzielt, für die Katz? Oder noch schlimmer: Stabilisiert die Symptombekämpfung das System, da es den Verlierer*innen das falsche Versprechen gibt, dass sich für sie doch noch alles zum Besseren wenden wird?

Theoretiker*innen und Praktiker*innen aus sozialen Be­wegungen an verschiedenen Orten der Welt haben sich mit dieser Frage beschäftigt, und Konzepte wie revolutionäre Realpolitik (Rosa Luxemburg)12 entworfen. Sie alle ähneln sich in der Aussage, dass ein realpolitisches Handeln auch im Hier und Jetzt nicht nur zu einer (oft bescheidenen) Verbesserung im Alltag beitragen kann und sollte. Es kann und sollte auch die Voraussetzungen für eine grundlegende Transformation verbessern und Schritte in Richtung eines radikalen Wandels gehen – daher revolutionär. Wichtig ist dafür zum einen, dass eine langfristige Perspektive eines radikalen Systemwandels mitgedacht wird, wenn beispielsweise Kampagnen geplant und politische Forderungen formuliert werden. Zum anderen, und damit verknüpft, sollten die zu erkämpfenden Erfolge die Chancen für einen echten Systemwandel erhöhen.

Laut Dieter Klein „tanzt das Morgen schon im Heute“13: Wandel innerhalb unseres jetzigen kapitalistischen Systems kann eben auch Elemente, Institutionen und Verhaltensnormen einer nach-kapitalistischen Gesellschaft beinhalten, sozusagen ein utopisches Moment. Ein Einstiegsprojekt könnte beispielsweise kostenloser Nahverkehr sein. Dies wäre durchaus im jetzigen System möglich. Aber gleichzeitig wäre dann die Teilhabe an einem wichtigen Lebensbereich nicht mehr vom Geld der Nutzer*innen abhängig, sondern würde sich am Mobilitätsbedürfnis der Menschen ausrichten. In der Summe können solche Einstiegsprojekte – bei ausreichender Unterstützung der Bevölkerung – die Kräfteverhältnisse verschieben.

12 Rosa Luxemburg (1903): Karl Marx. In: GW 1.2, Berlin, S. 369-377.

13 Dieter Klein (2013): Das Morgen tanzt im Heute. Transformation im Kapitalismus und über hin hinaus. VSA.

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Konzepte wie revolutionäre Realpolitik ermöglichen auch einen Umgang mit dem Problem, dass umfassender gesellschaftlicher Wandel Zeit braucht – Zeit, die wir angesichts der Klimakatastrophe nicht haben. So muss man sich nicht zwischen den beiden Polen der Debatte entscheiden: Weder ein „wir haben keine Zeit für Systemwandel, wir brauchen Klimaschutz jetzt“ noch ein „bevor der Kapitalismus überwunden ist, bringt Klimaschutz sowieso nichts“ ist in diesem Sinne zielführend.

Kampagnen und politische Forderungen sollten daher immer zwei miteinander verschränkte Ziele verfolgen: erstens greifbare Verbesserungen, die im Hier und Jetzt möglich sind (→ Baustein: ORGANIZING - TRANSFORMATION AUS DEM ALLTAG HERAUS) und zweitens eine darüber hinaus gehende Transformationsperspektive, die die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verschiebt und die Bedingungen für einen Systemwandel verbessert. Ohne dies verbleibt politischer Aktivismus innerhalb der Systemgrenzen.

Beispiel: Deutsche Wohnen & Co. enteignen – Recht auf Wohnen statt Profite!

Der explosionsartige Anstieg der Mieten in Berlin – eine Verdoppelung innerhalb von zehn Jahren – führt dazu, dass viele Alteingesessene ihre Stadtviertel verlassen müssen und es immer schwieriger wird, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Zahnlose Tiger wie die Mietpreisbremse der Bundesregierung konnten diesen Trend nicht stoppen. Wohnen ist im Kapitalismus eine Ware: Die Eigentümer*innen der Mietwohnungen optimieren ihre Rendite

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über möglichst hohe Mieten und wenige Ausgaben für Instandhaltung. Wohnraum dient als Spekulationsobjekt und treibt somit auch die Preise für den Kauf einer eigenen Wohnung nach oben.

Aufbauend auf langjährigen Mieter*innenkämpfen setzte die Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen! bei dem Alltagsproblem der rasant steigenden Mieten an. Sie startete 2019 ein Volksbegehren für die Vergesellschaftung der Wohnungen von großen Immobilienkonzernen. Der Zweck von Aktiengesellschaften wie Deutsche Wohnen oder Vonovia ist es, möglichst hohe Dividenden zu erzielen. Das treibt die Mietpreise in astronomische Höhen. Trotz starken Gegenwindes der meisten Parteien und dem Streuen von Fehlinformationen durch die Immobilienwirtschaft und Medien entschieden im September 2021 knapp 60 % der wählenden Berliner*innen in dem Volksentscheid, dass 240 000 Wohnungen in Berlin der Spekulation entzogen werden sollen. Die Konzerne würden hierfür entschädigt und die Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführt. Das heißt, dass die Wohnungen zu öffentlichem Eigentum würden und die Mieter*innen in Verwaltung und Entscheidungen bezüglich der Wohnobjekte eingebunden wären.

Der Erfolg der Kampagne führte dazu, dass zum Beispiel in Hamburg überlegt wird, wie dort ein ähnlicher Volksentscheid umgesetzt werden kann. Trotz des erfolgreichen Volksentscheids ist – Stand Juni 2022 – noch nicht ausgemacht, ob die Enteignungen vollzogen werden, da dies weiter politisch umkämpft ist. In jedem Fall hat die Kampagne bereits einen Erfolg erzielt: Enteignungen werden als mögliches Mittel der politischen Gestaltung wieder breiter diskutiert und es wird ins gesellschaftliche Gedächtnis gerufen, dass das Grundgesetz Enteignungen explizit vorsieht. Der existierende rechtliche Rahmen wird zum Ausgangspunkt, um die derzeitigen ungerechten Eigentumsverhältnisse anzugreifen. Eine Enteignung in Folge der Kampagne würde die Spielräume für gemeinwohlorientierte Politik ausweiten und über die jetzigen privatwirtschaftlich dominierten Ansätze hinausweisen. Die Kampagne geht die konkrete Notlage in Folge der Mietenexplosion an, hat viele Leute für mietenpolitisches Engagement motiviert und zu einer effektiveren Organisierung (→ Baustein: ORGANIZING - TRANSFORMATION AUS DEM ALLTAG HERAUS) beigetragen. Gleichzeitig bereitet sie den Weg dafür, den Kapitalismus im Bereich Wohnen zurückzudrängen und an seine Stelle eine demokratische und bedürfnisorientierte Versorgung mit Wohnraum treten zu lassen.

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Übung: Die 7. Generation

Einleitung

Die folgende gefühlsbetonte Gruppenübung nutzt einen eher intuitiven Zugang, um den Zusammenhang zwischen den wichtigen heutigen und oftmals kleinteiligen Alltagskämpfen und einem umfassenden, langfristigen Wandel herzustellen. Diese Übung soll eine Brücke in die Zukunft bauen. Sie lädt dazu ein, Fragen zu beantworten, die künftige Menschen stellen könnten. Durch den Austausch mit Menschen, die sieben

Wollt ihr eure politische Arbeit stärker an revolutionärer Realpolitik ausrichten? Dann können euch die folgenden Fragen helfen, eure Arbeit und eure Strategie am „Sowohl-als-auch“ von Reformen im Jetzt und Hier und revolutionären Veränderungen auszurichten:

  • An welchen ganz akuten Alltagsproblemen könnt ihr mit euren Aktivitäten ansetzen, um konkrete Verbesserungen im Alltag zu schaffen?
  • Wie können eure Forderungen und Aktivitäten den Raum des Möglichen erweitern, um zukünftig radikaleren Wandel zu erreichen?
  • Welche Konventionen und Werte werden durch eure Forderungen und Aktivitäten infrage gestellt und verschieben so den Diskurs?
  • Motiviert und ermächtigt das, was ihr tut, euch und andere zu weiteren Kämpfen?
  • Wird Raum zum Experimentieren von solidarischen Alternativen geschaffen?
  • Welche Elemente eurer Forderungen und Aktivitäten sind gleichzeitig Bausteine für eine solidarische Lebensweise/post-kapitalistische Gesellschaft?
  • Wie könnten hegemoniale Kräfte die Forderungen oder eure Arbeit vereinnahmen? Was würde das für euch bedeuten? Wie kann gegengesteuert werden?
  • Findet ihr auch Punkte, in denen eure Aktivitäten und Forderungen das System, das ihr eigentlich überwinden wollt, stärken? Und was ließe sich dagegen tun?
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Generationen nach uns leben, können wir die Bedeutung unserer jetzigen Handlungsmöglichkeiten für radikalen Gesellschaftswandel erfahren. Denn aus einer systemischen Perspektive haben heutige Entwicklungen und Handlungen Konsequenzen, die sich über Jahrhunderte erstrecken – das zeigt sich durch die Klimakrise noch deutlicher. Wenn wir uns darin üben, in erweiterten Zeithorizonten zu leben, können wir lernen, uns selbst als Vorfahren künftiger Generationen zu verstehen. Wie können wir für unsere Nachfahren die Rolle von Verbündeten einnehmen? Wenn wir hören, was wir ihnen antworten, hilft uns das, den Horizont unserer Perspektive und Strategien in die Zukunft zu erweitern und systemisch zu vertiefen.

  • Ca. 60 Minuten
  • 5 - 25 Teilnehmende
  • Ggf. Stühle oder andere verschiebbare Sitzmöglichkeiten

Ablauf

1. Vorbereitung (5 Minuten)
Bildet zwei Sitzkreise, in denen sich jeweils zwei Personen gegenübersitzen können. Eine Person sollte die Übung anleiten. Alle anderen Personen nehmen willkürlich in den zwei Kreisen Platz.

2. Fragen aus der Zukunft (15 Minuten)
Die anleitende Person liest nun vor: „Die Personen, die im inneren Kreis sitzen, sind Personen aus der Gegenwart. Ihnen gegenüber sitzen im äußeren Kreis Personen aus der Zukunft. Diese Personen sind der gegenwärtigen Zeit 200 Jahre voraus und kommen zu Besuch zu ihren Vorfahren. Die Personen aus der Zukunft haben viele Geschichten über die Zeit vor ihnen gehört – in Büchern, Liedern und Erzählungen. Doch wie die Welt sich entwickelt hat, hat viele Fragen aufgeworfen, die sie den Menschen aus der Gegenwart gerne direkt stellen möchten.“

Die anleitende Person stellt nun im Namen der Menschen aus der Zukunft folgende drei Fragen an die Menschen aus der Gegenwart:

  • Frage 1: Liebe*r Vorfahr*in, ich höre Geschichten über die Zeit, in der du gelebt hast, von Kriegen, von einigen absurd reichen Menschen und gleichzeitig viel Armut und heimatlosen Menschen, von Menschen, die tagtäglich mit Diskriminierung kämpfen müssen, von Gift in den Meeren, im Boden und in der Luft, vom Aussterben vieler Arten. Wir spüren noch immer die Auswirkungen von alledem. Von wie vielem davon weißt du und wie ist es für dich, mit diesem Wissen zu leben?
  • Frage 2: Liebe*r Vorfahr*in, wir haben Lieder und Gedichte, die davon erzählen, was du und deine Freund*innen damals getan haben, um die Welt radikal zu verändern. Sie sagen uns nicht, wie ihr begonnen habt. Ihr müsst euch manchmal einsam, ohnmächtig und verwirrt gefühlt haben in euren Handlungen und Kämpfen für eine andere Welt. Welche Schritte habt ihr konkret unternommen?
  • Frage 3: Liebe*r Vorfahr*in, ich weiß, dass ihr viel Mut und Anstrengung unternommen habt und für eine ganz andere Welt eingetreten seid, in der ein Gutes Leben für alle möglich sein konnte. Woher habt ihr die Kraft genommen, über lange Zeit so hart­näckig eure Ziele zu verfolgen, trotz all der Hindernisse und Entmutigungen.

Nach jeder Frage hält die anleitende Person inne und lässt die Menschen aus der Gegenwart zwei bis drei Minuten erzählen. Die Menschen aus der Zukunft hören einfach nur zu, was die Menschen der Gegenwart auf die Fragen zu antworten haben – bitte keine Nachfragen stellen, die Menschen aus der Zukunft hören wirklich nur zu. Die anleitende Person hat die Zeit im Blick und stellt jeweils die nächste Frage, wenn die Zeit um ist.

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3. Eindrücke aus der Zukunft (10 Minuten)
Nachdem alle drei Fragen gestellt wurden und nur die Menschen im inneren Kreis gesprochen haben, sind die Menschen aus der Zukunft (des äußeren Kreises) dran. Sie berichten der Person aus der Gegenwart, die ihnen gegenüber sitzt, wie es war, ihr zuzuhören. Auch dafür sind etwa drei Minuten angesetzt. In dieser Zeit hören die Menschen des inneren Kreises nur zu und stellen keine Nachfragen.

Nach dieser Runde stehen alle einmal auf und schütteln sich einmal, klopfen ihren Körper ab und alle kommen wieder ganz im Hier und Jetzt und dem Raum an, in dem die kleine Zeitreise stattgefunden hat.

4. Nachbesprechung (20 Minuten)
Tauscht euch im Anschluss an die Übung gerne zunächst für fünf bis zehn Minuten in den jeweiligen Erzählpaaren über die Übung aus. Wie ging es euch in eurer jeweiligen Rolle? Wie war es zu erzählen/zuzuhören? Was für Emotionen und Gedanken sind beim Erzählen/Zuhören aufgekommen?

Nehmt euch im Anschluss den Rest der Zeit, um in der großen Gruppe über die Übung zu sprechen. Welche Eindrücke, Gefühle oder Erkenntnisse wollt ihr mit der Gruppe teilen? Hat euch die Übung geholfen, Verbindungen zwischen eurem jetzigen Handeln und einer langfristigen Wandelperspektive herzustellen? Was war schwierig und wieso? Nehmt ihr Anregungen für eine revolutionäre Realpolitik mit?

Quelle der Übung

Die Übung wurde von uns leicht angepasst und stammt ursprünglich aus: Joanna Macy und Chris Johnstone (2014): Hoffnung durch Handeln. Junfermann Verlag, S. 149.

Zum Weiterstöbern

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