Mit emergenten Strategien flexibel bleiben

Strategie – das klingt nach einem Schlachtplan, den einige kluge und mächtige Köpfe schmieden und im Anschluss in die Tat umsetzen. Ein solches militärisches Verständnis von Strategie geht davon aus, dass einige wenige Strateg*innen auf vollständige Informationen zurückgreifen, alle relevanten Variablen miteinrechnen und das Vorgehen im Vorhinein minutiös planen. Doch die Umsetzung solcher Strategien ist häufig schwierig, insbesondere wenn sie auf größere Veränderungen abzielen. Denn die Welt ist konstant in Bewegung, ein Strom aus sich ständig wandelnden Beziehungen und Mustern. Und so scheitern viele dieser Strategien, da sie nicht flexibel auf sich verändernde Bedingungen reagieren können.

Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir Transformation planen, kontrollieren und einfach umsetzen können. Aber das lässt uns nicht ohnmächtig zurück. Denn Menschen können sich zusammenschließen, sich organisieren, neue Beziehungen aufbauen, gemeinsam Strategien entwerfen und diese regelmäßig reflektieren und weiterentwickeln – und somit in gesellschaftliche Prozesse eingreifen. Als Aktivist*innen sind wir teilmächtig – nicht allmächtig. Wir können die Welt mit anderen mitgestalten, sozusagen ko-transformieren.

Die Aktivistin adrienne maree brown spricht hier von emergenten Strategien. Emergenz beschreibt den Prozess, wenn in Systemen durch das Zusammenwirken verschiedener Elemente etwas qualitativ Neues entsteht, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Emergente Strategien reagieren flexibel auf sich wandelnde Umstände. Sie sind:

  • anpassungsfähig, das heißt, sie passen sich an verändernde Bedingungen an;
  • fraktal, das heißt, sie leben im Kleinen den Wandel im Großen vor;
  • verbindend, das heißt, sie schaffen Verbundenheit zwischen Menschen und zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen;
  • dezentral, das heißt, sie verteilen Macht auf viele Schultern;
  • nicht-linear, das heißt, sie sind offen für explosionsartige wie auch stille und schleichende Veränderungen;
  • iterativ, das heißt, sie sind offen für sich wiederholende Lernprozesse;
  • resilient, das heißt, sie berücksichtigen die Notwendigkeit, sich zu erholen und zu stärken, um Rückschläge, Schmerzen und Krisen verarbeiten zu können;
  • und sie schaffen viele neue Möglichkeiten, das heißt, sie orientieren sich nicht nur an der einen Strategie, sondern fördern eine Vielzahl an verschiedenen Strategien.
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Erfolgreiche Strategien werden also nicht im Vorhinein ausformuliert. Sie entstehen und verändern sich vielmehr kontinuierlich im Zusammenspiel von beabsichtigten und nicht-beabsichtigten Prozessen. Solche Strategien brauchen einerseits eine Zielperspektive (→ Baustein: REALPOLITIK REVOLUTIONÄR GESTALTEN), also eine Vision für eine wünschenswerte Zukunft und mögliche Wege dorthin. Andererseits erfordern sie eine ständige Auseinandersetzung mit tieferliegenden Mustern, systemischen Zusammenhängen und deren ständigem Wandel – und dies aus unterschiedlichen Perspektiven. Emergente Strategien helfen also dabei, auf unvorhergesehene Krisensituationen und schnelle gesellschaftliche Verschiebungen zu reagieren. Denn sie passen sich kontinuierlich an eine sich verändernde Umwelt an, ohne dabei jedoch das Transformative der Ziele aus dem Blick zu verlieren.

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Beispiel: Black Lives Matter – Organisierung geboren aus Trauer und Wut

Ein Beispiel für emergente Strategien ist die Bewegung Black Lives Matter (BLM). BLM wurde nicht von langer Hand geplant, sondern hat sich Bahn gebrochen – als Ausdruck von Kummer, Wut und Verzweiflung gegenüber der wiederholten Tötung von Schwarzen Menschen durch staatliche Sicherheitsapparate in den USA. adrienne maree brown beschreibt es so: „Das war emergent. Es hat sich nicht jemand hingesetzt und gesagt: ‚Ich habe alles geplant, ich weiß, wie wir Schwarze Menschen für ihren Befreiungskampf mobilisieren und direkte Aktionen im Hier und Jetzt starten.‘ Das ist nicht das, was passiert ist. Es ist vielmehr aus großer Trauer erwachsen ... und diese Trauer wirkte so mobilisierend, dass Menschen gesagt haben: ‚Wie organisieren wir uns für das, wonach wir streben und woran wir glauben? In einem Moment, in dem alles um uns herum uns zeigt, dass wir nichts bedeuten, aber wir wissen, dass wir es tun.‘ Und so viele Menschen haben sich diesem Aufruf angeschlossen.“14 BLM ist allerdings nicht aus dem Nichts entstanden, sondern stützt sich auf jahrelange kontinuierliche Organisierungsarbeit in Schwarzen Communities. BLM selbst wurde im Jahr 2013 von den drei Frauen of Color Alicia Garza, Opal Tometi und Patrisse Cullors gegründet, ist dezentral organisiert und inzwischen an vielen Orten der Welt verankert. Die Bewegung stärkt die Verbundenheit und Widerstandsfähigkeit Schwarzer Communities im Angesicht von Polizeigewalt und Rassismus, reagiert schnell auf immer wieder neue Ereignisse, wie die wiederholte Tötung Schwarzer Menschen durch die Polizei, und verwendete eine Vielzahl an Taktiken, wie direkte Aktionen, Demonstrationen und Social-Media-Kampagnen, um systemische Veränderungen und transformative Gerechtigkeit zu erzielen.

  • Alicia Garza (2020): Die Kraft des Handelns. Wie wir Bewegungen für das 21. Jahrhundert bilden. Klett-Cotta.

Übung: Strategiekreis

Einleitung

Die folgende Reflexionsübung ist sowohl für neue als auch für bestehende Gruppen geeignet, die ihre strategische Ausrichtung überdenken und anpassen möchten. Damit emergente Strategien entstehen können, braucht es Zeit und Raum. Nehmt euch immer mal wieder etwas Zeit, um eure Strategien zu überdenken, abzuändern, anzupassen und auf unvorhergesehene Ent­wicklungen einzugehen. Diese Übung ermöglicht, dass die Themen, Emotionen und Gedanken, die euch im aktu­ellen Moment beschäftigen, Raum finden, ausgedrückt und besprochen werden und somit Platz in eurem Strategie­prozess finden können. Die Übung möchte helfen, eure Strategien immer wieder in ersten Schritten zu denken statt als  vorgefertigten Masterplan.

14 adrienne maree brown (2017) im Video über „Emergent Strategies“.

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  • Ca. 90 Minuten
  • Mindestens 5 Personen; bei größeren Gruppen: Kleingruppen bilden
  • 2 große Papierbögen
  • Moderationskarten
  • Stifte verschiedener Farben
  • Klebepunkte (optional)

Ablauf

1. Den Rahmen setzen (5 Minuten)
Legt gemeinsam eine Person fest, die durch die Übung leitet. Diese erklärt zu Beginn Ziel, Dauer und Ablauf.

2. Ziele und Beweggründe sammeln (40 Minuten)
Die Teilnehmenden werden in zwei Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe erhält einen großen Papierbogen und Stifte. Die eine Gruppe sammelt politische Ziele, die ihr gerne erreichen möchtet. Hier geht es nicht um die Frage, was ihr tun, sondern was ihr erreichen wollt und was ihr euch wünscht. Ein Beispiel wäre das Ziel einer veränderten Erinnerungskultur im öffentlichen Raum: keine Denkmäler für deutsche Unterdrücker, sondern für Widerstandskämpfer*innen. Die zweite Gruppe sammelt Begründungen, wieso ihr in der Gruppe zu euren Themen arbeitet. Hier können sowohl eure persönlichen Erfahrungen und Betroffenheit zu dem Thema als auch externe Ereignisse, die eure Themen aktuell beeinflussen, Platz finden (zum Beispiel aktuelle rassistische Angriffe oder Gesetzesbeschlüsse). Nach etwa 20 Minuten wechseln die Gruppen und ergänzen für weitere 10 Minuten auf dem jeweils anderen Plakat weitere Ziele beziehungsweise Beweggründe, die ihnen noch einfallen. Die Zusammenstellung aus Zielen und Beweggründen ist eure langfristige Perspektive, euer Kompass. Hängt sie gut sichtbar für alle an eine Wand. Nehmt euch 10 Minuten Zeit, damit alle nochmal auf beide Plakate einen Blick werfen können und ggf. Verständnisfragen geklärt werden können.

3. Ziele priorisieren (15 Minuten)
Im folgenden Schritt geht es darum, Ziele zu priorisieren: Welches Ziel soll die Gruppe als erstes verfolgen? Jede Person bekommt nun zwei oder drei Klebepunkte. Mit diesen kann sie abstimmen, welches Ziel die Gruppe als erstes anvisieren sollte. Wenn ihr keine Klebepunkte habt, malt einfach mit einer anderen Farbe Punkte neben das Ziel. Nehmt euch zunächst fünf Minuten Zeit, damit alle in Ruhe ihre Entscheidung treffen können und punktet dann gleichzeitig. Wertet aus, welche Ziele die meisten Punkte erhalten haben. Nun könnt ihr euch entscheiden, ob ihr die Themen mit den meisten Punkten parallel mit verschiedenen Gruppen besprecht und weiterverfolgt, euch zunächst auf ein Ziel beschränkt oder – sofern ihr genug Zeit habt – die einzelnen, priorisierten Ziele nacheinander besprecht.

4. Den ersten Schritt entwickeln (30 Minuten)
Macht zunächst eine kurze Pause, atmet durch, schüttelt euch. Teilt euch dann entsprechend der Anzahl der ausgewählten Ziele gegebenenfalls in Kleingruppen auf und benennt für jede Gruppe eine*n Moderator*in und eine Person, die wichtige Punkte schriftlich festhält. In der Kleingruppe überlegt ihr euch nun einen ersten Schritt, den ihr als Gruppe ausprobieren möchtet. Dazu sammelt ihr zunächst in Stillarbeit mögliche erste Schritte auf Moderationskarten. Legt die Moderationskarten gut sichtbar für alle in die Mitte. Tauscht euch nun darüber aus, was für euch mit Blick auf eure Ziele und Beweggründe aktuell der beste nächste, erste Schritt ist. Bewahrt die anderen Karten für spätere Überlegungen auf. Wichtig: Denkt daran, dass es nicht darum geht, einen Masterplan bis zum Ziel zu entwerfen, sondern nur einen ersten Schritt zu gehen. Erste Schritte können klein oder groß sein, es könnte eine konkrete Aktion sein, aber auch ein weiterführendes Gespräch oder weitere Nachforschungen.

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5. Rausgehen und ausprobieren
Ein zentrales Element emergenter Strategien ist das Ausprobieren. Geht raus in die Welt, probiert aus, stolpert und lernt dazu. Dieser Schritt ist kein Teil von einem Gruppentreffen mehr, sondern passiert zwischen euren Treffen.

6. Reflexion
Wenn ihr euren ersten Schritt oder ein paar erste Schritte gegangen seid, könnt ihr für die Entwicklung des nächsten Schrittes einfach wieder mit dem Strategiekreis beginnen. Für Phase 2 könnt ihr eure Ziele und Beweggründe vom vorherigen Mal hervorholen und schauen, ob etwas Neues hinzugekommen ist, etwas gestrichen oder verändert werden kann. Für Phase 4 könnt ihr auch eure alten Moderationskarten mit möglichen nächsten Schritten nutzen und diese gern ergänzen. Durch die regelmäßige Wiederholung der Übung könnt ihr eure Strategie Schritt für Schritt entwickeln und lernt im Gehen immer mehr dazu und könnt eure Schritte anpassen.

Quelle der Übung

Die Übung haben wir neu erarbeitet.

Zum Weiterstöbern

  • adrienne maree brown (2017): Emergent Strategy. Shaping change, changing worlds. AK Press.
  • adrienne maree brown (2021): Holding Change. The way of emergent strategy facilitation and mediation. AK Press.
  • Laleña Garcia (2020): What We Believe: A Black Lives Matter Principles Activity Book. Lee & Low Books.
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