Betroffensein in Stärke verwandeln

In der nordamerikanischen Klimagerechtigkeitsbewegung hat in den letzten Jahren der Begriff der Frontline Communities Einzug gehalten. In den USA werden Öl-Pipelines durch indi­gene Territorien gelegt und Schäden durch Hurrikans betreffen überdurchschnittlich stark einkommensschwache und afroamerikanische Stadtviertel. Oftmals sind es diese unmittelbar betroffenen Gemeinschaften, die politisch aktiv werden und Widerstand leisten und somit zu Frontline Communities werden. Diese kämpfen an vorderster Front gegen die imperiale Lebensweise und ihre Auswirkungen. Auch Gemeinschaften im Globalen Süden, die jetzt schon mit den existenzbedrohenden Konsequenzen der Klimakrise zu kämpfen haben und sich daher für Klimagerechtigkeit einsetzen, sind in diesem Sinne Frontline Communities. Ebenso kämpften die Beschäftigten in der Pflege oder in anderen systemrelevanten Berufen während der Covid-19 Pandemie an der Frontline, oft unter miserablen Arbeitsbedingungen, mit Gefährdung ihrer eigenen Gesundheit und über ihre Kräfte hinaus. Viele Menschen an der Pandemie-Frontline streikten daher für besseren Arbeitsschutz und Entlastung, beispielsweise Pfleger*innen in Indien und Zimbabwe oder Lieferdienstarbeiter*innen in Südkorea und den USA.

Oft kommen in den Frontline Communities verschiedene Unterdrückungsmechanismen zusammen, wie beispielsweise Rassismus und Klassenzugehörigkeit. In vielen Kämpfen von Frontline Communities spielen systemische Ansätze daher eine große Rolle (→ Baustein: SYSTEMISCH DENKEN STATT SCHEUKLAPPENBLICK und INTERSEKTIONAL HANDELN). Wenn sich Betroffene organisieren, können sie effektive Lösungsansätze und Strategien entwickeln. Schließlich sind sie die Expert*innen für die Problematik, aber auch für ihre eigenen Ressourcen, und ihr Protest strahlt Legitimität aus.

Auch wenn du nicht Teil einer Frontline Community bist, macht dich die Naturzerstörung oder Ausbeutung im Globalen Süden vielleicht betroffen. Beispielsweise empörst du dich über die Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen, die der Steinkohleabbau in Kolumbien verursacht. Du kämpfst dann zwar nicht an der Frontline vor Ort gegen den Kohleabbau, du kannst aber in einer wichtigen unterstützenden Rolle aktiv werden. In diesem Fall kann solidarische Unterstützung, die Aufmerksamkeit und Netzwerke schafft, sinnvoll sein. Sie kann aber auch bevormundend sein, eine kritische Reflektion der eigenen Rolle ist daher notwendig (→ Baustein: ZU VERBÜNDETEN UND KOMPLIZ*INNEN WERDEN). Suche den Austausch mit Betroffenen und bring in Erfahrung, welche Unterstützung hilfreich ist. Ist ein gemeinsamer Infoabend sinnvoll? Ein Redebeitrag bei der nächsten Demonstration? Oder die Nutzung bestehender Ressourcen, wie zum Beispiel Kontakte?

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Wir denken: Auch für Personen und Gruppen, die vielleicht nicht direkt an vorderster Front um ihre Existenz kämpfen, kann der Frontline-Ansatz inspirieren. Er hilft, Betroffenheiten zu analysieren und daraus eine politische Praxis zu entwickeln. Wir verstehen Betroffenheit dabei in zwei Dimensionen. Zum einen können wir direkt von etwas betroffen sein (zum Beispiel von Gängelungen im Jobcenter). Zum anderen können uns auch Ungerechtigkeiten, die andere treffen, betroffen machen (zum Beispiel das Leid von Tieren in der industriellen Tierhaltung). Betroffene haben durch die persönliche Motivation häufig auch einen längeren Atem als von Fördermitteln und politischen Trends abhängige andere Akteur*innen. Deine und eure eigene Betroffenheit zu finden, kann daher nützlich sein für transformative Strategieentwicklung.

In einem ersten Schritt möchten wir daher die Fragen aufwerfen: Auf welche Weise bist du oder ist dein Umfeld negativ von Ungerechtigkeiten betroffen? Wohnst du auf dem Land und werden Bus- oder Bahnverbindungen eingestellt? Leidest du unter langen Arbeitszeiten und hohem Arbeitsdruck oder hast du Freund*innen mit Burnout? Musst du sinnlose Tätigkeiten am Arbeitsplatz verrichten und wünschst dir mehr Mitbestimmung? Wird von dir als Frau erwartet, dass du dich mehr um den Haushalt und die Kinder kümmerst als dein Partner? Wirst du als Vater schief von deinen Kolleg*innen angeschaut, weil du im Beruf aussetzt, um dich um deine Kinder zu kümmern? Erfährst du Rassismus oder machen dich rassistische Beleidigungen ge­gen­über Freund*innen oder Verwandten wütend? Leiden deine Eltern unter den gesundheitlichen Folgen von miesen Jobs mit wenig Arbeitsschutz? Natürlich sind verschiedene Betroffenheiten nicht ver­gleichbar. Während man­che ein bloßes Ärgernis (oder gar Ausdruck eines Privilegs) darstellen, folgt aus anderen die Bedrohung von Leib und Leben oder andauernde Angst. Es soll hier jedoch nicht um eine Hierarchisierung gehen, sondern darum, die eigene Verbindung zu systema­tischen Ungerechtigkeiten zu erkunden.

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In einem zweiten Schritt geht es darum, uns mit anderen zusammenzutun, die Ähnliches erfahren und erleiden. Vielleicht gibt es bereits Initiativen, denen du dich anschließen kannst, oder es ergeben sich neue Zusammenhänge, wenn du mit anderen Betroffenen das Gespräch suchst. Gemeinsam können wir Angst, Trauer, Ohnmacht, Wut und Frust in positive Energie umwandeln und politisch aktiv und widerständig werden. Betroffenheit kann eine Quelle für Legitimation sein – nutzt dies! Wenn kollektive Betroffenheit mit kollektiver Organisierung einhergeht, entstehen widerständige Gemeinschaften. Neue Kämpfe gegen die imperiale Lebensweise tauchen auf, Menschen entwerfen solidarische Alternativen und probieren sie aus. So entstehen Stadtteilinitiativen gegen Verdrängung, Projekte solidarischer Landwirtschaft oder Initiativen für Umverteilung. Kollektive Organisierung hilft auch mit den Niederlagen und Rückschlägen umzugehen. Schließlich geht es, drittens, darum, die verschiedenen Kämpfe nicht getrennt voneinander zu betrachten. Sondern, gerade weil sie sich alle gegen Auswirkungen der imperialen Lebensweise richten, das Gemeinsame in den verschiedenen Betroffenheiten, Kämpfen und Ansätzen zu finden und sich mit anderen Bewegungen zusammenzuschließen (→ Baustein: KÄMPFE VERBINDEN).

Beispiel: An den Frontlinien der Klimakrise kämpfen

Frontline-Communities bekämpfen die Klimakrise an den Ursprungsorten und Transportrouten des fossilen Raubbaus, zum Beispiel bei den Protesten gegen die Pipeline Keystone XL in Nordamerika. Aber auch die Menschen, die am stärksten an den Folgen der Klimakrise leiden (oftmals als „most affected people and areas“, MAPA, bezeichnet), engagieren sich an der Frontline der Klimakrise. Aktivist*innen pazifischer Inselstaaten haben sich als Pacific Climate Warriors zusammengetan, um sich unter dem Motto: „Wir ertrinken nicht. Wir kämpfen.“ gegen die fossile Industrie zu stellen. Sie organisieren Bildungsveranstaltungen, üben bei den offiziellen Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen Druck auf die Verhandler*innen aus, und nahmen an der Blockade des weltgrößten Kohlehafens in Australien im Jahr 2014 mittels traditioneller Boote teil.

Auch in Deutschland gibt es schon seit Längerem eine Klimagerechtigkeits­bewegung. Aber erst mit Fridays For Future wurde das Klima zeitweise zum dominierenden Thema in den Medien und Talkshows. Ein Grund hierfür liegt sicherlich darin, dass die Generation der Schüler*innen stark von den Folgen der Klimakrise betroffen sein werden, und somit ihre konkreten (Zukunfts-)Ängste und Be­troffenheit in die Öffentlichkeit tragen. Dies hatte mehr me­diale Reichweite als die Argumente aus Wissenschaft und der Klimagerechtigkeitsbewegung vorher. Hier zeigt sich auch das Problem, dass die Menschen, die bereits jetzt (vor allem im Globalen Süden) existenziell vom Klimawandel bedroht sind, nahezu keine Öffentlichkeit in deutschen Medien bekommen. Umso wichtiger ist es, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung rassismuskritisch und global solidarisch agiert. Viele Menschen in der Klimagerechtigkeitsbewegung engagieren sich, weil sie die globale Ungerechtigkeit der Klimakrise betroffen macht. Deswegen versuchen Menschen in der Klimagerechtigkeitsbewegung, den MAPA auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und Verbindungen zwischen den Klimakämpfen im Globalen Norden und Globalen Süden zu schaffen. Am Rande der Klimakonferenz in Bonn 2017 gab es beispielsweise eine gemeinsame Aktion von Aktivist*innen der Pacific Climate Warriors und lokalen Braunkohlegegner*innen am Tagebau Hambach.

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Übung: Mit Körperkarten Betroffenheiten verorten

Einleitung

In der folgenden intuitiven Gruppenübung soll ein Mapping entstehen, also eine Karte erschaffen werden – und zwar vom eigenen Körper. Die Methode wurde vom lateinamerikanischen feministischen Kollektiv Míradas Críticas del Territorio desde el Feminismo (übersetzt: Kritische Perspektiven auf das Territorium aus einer feministischen Sicht) entwickelt und in Zusammenarbeit mit vielen lokalen Gruppen erprobt. Bei dieser Methode zeichnet ihr eine Karte des eigenen Körpers und verortet darauf Empfindungen und Erfahrungen. Es geht um die positiven und negativen Empfindungen und Erfahrungen, die Menschen an bestimmten Orten ihrer räumlichen Umwelt erfahren. Gleichzeitig werden sie auf der eigenen Körperkarte dort eingeschrieben oder eingezeichnet, wo sie Auswirkungen auf den eigenen Körper haben. So entsteht eine Karte des eigenen Körpers und der eigenen Alltagsumwelt, die hilft, zu begreifen, wo Menschen Prekarität, Verletzungen, Demütigung, Gewalt, aber auch Hoffnung, Freude und Ermächtigung erfahren. Außerdem macht diese Methode deutlich, wie diese Erfahrungen mit der räumlichen Umwelt verwoben sind, sodass sich die Methode insbesondere für sozial-ökologische Kontexte anbietet. Dieser Ansatz hilft, auf einer gefühlsbetonten, fantasievollen Ebene Menschen anzusprechen und jenseits von rationalen Zugängen herauszufinden, wo der Schuh drückt, und die eigenen Betroffenheiten in eurer Gruppe zu finden.

Ablauf

1. Ankommen und gemeinsame Basis schaffen (15 Minuten)
Wichtig ist es, zu Beginn der Übung eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Eine Person wird die anderen durch die Übung navigieren. Sie sagt den Teilnehmenden einmal laut: „In den folgenden Diskussionen werden wir über Dinge sprechen, die sehr persönliche Bereiche betreffen können. Es bleibt euch überlassen, was ihr in der Gruppe ansprechen wollt. Eure Teilnahme ist absolut freiwillig. Wichtig ist, dass ihr Erzählungen von anderen mit Respekt begegnet. Wir einigen uns darauf, dass die hier geteilten Erfahrungen diesen Raum nicht verlassen. Seid ihr damit einverstanden?“

Einigt euch vorab auf das Thema, zu dem ihr eure Betroffenheiten, Gefühle, Empfindungen erkunden wollt. Es ist sinnvoll, für die Körperkarte einen alltäglichen Bereich der Teilnehmenden auszuwählen, also beispielsweise: Leben in der Nachbarschaft, Schule, Arbeitswelt, Umwelt oder Care-Tätigkeiten – je kleiner der Lebensbereich, der kartiert werden soll, desto konkreter werden die Körperkarten.

Alle Teilnehmenden bekommen ein Blatt Papier (gern DINA3 oder größer) und Stifte. Sie werden gebeten, auf diesem Blatt Papier den Umriss eines Körpers zu zeichnen.

2. Einfühlen (5 Minuten)
Die anleitende Person führt das Thema, für das ihr eure Karten erschaffen wollt, nun ein und bittet die Teilnehmenden, sich in diesen Bereich ihres Lebens einzufühlen. Dann stellt sie folgende Fragen und bittet die Teilnehmenden, sich dazu Gedanken zu machen: Wo halte ich mich auf? An welchen Orten komme ich vorbei? Wo gehe ich hin? Was tue ich dort? Auf wen treffe ich dort? Was empfinde ich dort? Es sind erste Impulse, während des Zeichnens werden noch neue Aspekte, Gefühle und Gedanken hinzukommen.

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  • Ca. 90-120 Minuten
  • 1-30 Personen
  • Große Papierbögen (mindestens DIN A3) oder besser großes Metaplanpapier
  • Stifte verschiedener Art (Filzstifte, Buntstifte, Wachsmaler usw.) und in verschiedenen Farben

3. Körperkarten zeichnen (45-60 Minuten)
Nachdem die Teilnehmenden Zeit hatten, sich in diese Situationen einzufühlen, werden sie gebeten, ihre Empfindungen zu diesen Orten, die sie durchlaufen, auf der Körperkarte einzutragen – und zwar dort, wo sie sich körperlich bemerkbar machen. Was geht mir durch den Kopf, wie fühlt sich das an? Was spüre ich in meinem Gesicht, meinen Augen, meiner Nase, meinem Mund? Was empfinde ich am Hals, auf den Schultern, in den Beinen? Werden sie schwer, werden sie leicht? Zieht sich mein Hals zusammen, öffnen sich die Atemwege? Wie reagiert mein Bauch? Empfinde ich Freude oder Lust, was entspannt und was verkrampft sich? Die anleitende Person kann folgende Beispiele vorlesen, falls es Teilnehmenden schwerfällt, die Übung anzugehen: Wenn ich den ganzen Tag auf der Schulbank sitze, bekomme ich Rückenschmerzen. Wenn ich meine Freund*innen im Fußballverein sehe, empfinde ich Freude im Herzen. Wenn ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre, habe ich Angst, dass meine Lungen zu viel Feinstaub einatmen und meine Beine werden schwer, aber mein Kopf wird leicht. Wenn ich nach der Arbeit noch beim Kindergarten und beim Supermarkt vorbeifahren muss und danach noch putze und koche, spüre ich viel Last auf meinen Schultern. Die Teilnehmenden bekommen genug Zeit, ihre Karten fertigzustellen. Ihr könnt währenddessen gern Musik im Hintergrund laufen lassen.

Wenn alle mit ihren Karten fertig sind, werden die Teilnehmenden in einem nächsten Schritt gebeten, in einer Farbe alle Elemente ihrer Körperkarte einzukreisen, wo sie Gewalt, Unsicherheit, Angst, Traurigkeit, Schmerz, Wut erfahren. Dann werden die Teilnehmenden gebeten, in einer anderen Farbe alle Elemente ihrer Körperkarte einzukreisen, wo sie ­Freude, Ermächtigung, Lust, Stärke, Verbundenheit empfunden haben.        

4. Austausch (30 Minuten)
Nun werden die Karten in der Mitte ausgelegt oder an der Wand aufgehängt. Wer möchte, kann einige Worte zu ihrer*seiner Körperkarte sagen. Die anleitende Person stellt danach die Fragen zur Diskussion: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich erkennen? Welche Ausgangspunkte für kollektive politische Kämpfe können wir daraus identifizieren?

Variante

Alternativ kann die Methode auch kollektiv durchgeführt werden. Eine Gruppe von circa sechs Personen erhält ein großes Papier (Metaplanpapier oder Ähnliches). Dort legt sich eine teilnehmende Person drauf und der Körper wird umrandet. Danach tragen alle Gruppenteilnehmer*innen gemeinsam eine Körperkarte zusammen. Hierbei wird gleich auf den ersten Blick erkenntlich, wo kollektive Erfahrungen liegen.

Quelle der Übung

Die Darstellung der Methode orientiert sich an den unten verlinkten Ausführungen der Escuela Autónoma Feminista de Verano (Autonome Feministische Sommerschule). Ursprünglich dargestellt wurde sie in: Colectivo Miradas Críticas del Territorio desde el Feminismo (2017): Mapeando el cuerpo-territorio.

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