Radikale kollektive Heilung

Während wir in sozialen Bewegungen versuchen, die Welt solidarischer und lebenswerter für alle zu machen, vergessen wir manchmal, den Blick darauf zu richten und wahrzunehmen, wie es uns selbst in der Welt ergeht. Dabei tragen wir alle Verletzungen, Trauer oder Schmerzen mit uns herum. Uns begleitet beispielsweise die Verletzung und die Wut, die wir empfunden haben, weil jemand über unseren Rollstuhl gelacht hat oder weil uns jemand gegen unseren Willen angefasst hat.

Andere Schmerzerfahrungen sind offensichtlicher kollektiver Art. Als COVID-19 sich zu einer globalen Pandemie entwickelte, beobachteten Psycholog*innen, dass viele Menschen eine sogenannte kollektive Traurigkeit erfasste. Es ist eine Traurigkeit über die vielen menschlichen Verluste und Entbehrungen, über die Ungewissheit, der die Welt

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entgegensieht. Insbesondere marginalisierte Gruppen kennen diese Erfahrungen und diese – sich auch körperlich äußernde – Schwere. Die Grausamkeit der Shoah, die menschenverachtenden Verbrechen während der Kolonialzeit, die harten menschlichen Verluste und Ausgrenzungen während der AIDS-Krise der achtziger und neunziger Jahre. Solche kollektiven Traumata prägen über Generationen hinweg das Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Handeln gesellschaftlicher Gruppen – und zwar nicht nur, aber insbesondere, der verletzten Gruppen, und auch der Generationen, die auf sie folgen. In der Psychologie wird daher auch von transgenerationellem oder intergenerationellem Trauma gesprochen. Diese wurden erstmals bei Kindern von Genozid-Überlebenden erkannt und seither unter anderem auch bei Nachkommen von Sklav*innen, geflüchteten Menschen, Indigenen und Überlebenden von Missbrauch.

Das Wissen über intergenerationelle Traumata ist wichtig, um Traumata zu verstehen und zu bearbeiten. Trauma wird dabei als Prozess begriffen. Es ist kein abgeschlossener Moment, sondern wirkt über das konkrete traumaauslösende Ereignis hinaus – zum einen zeitlich, aber auch auf andere Personen. Für eine solche Perspektive ist es notwendig, die Verbindungen zwischen der psychisch-körperlichen, der sozialen und politischen Dimension zu betrachten. Menschen, die mit Traumata und ihren Folgen leben, werden oft als individuell krankhaft behandelt. Dabei ist ihre Situation das Ergebnis gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse.

Jeder Mensch, der mit einem Trauma lebt, macht natürlich ganz eigene Erfahrungen, hat individuelle Schmerzen, persönliche Ängste und Zweifel. Zusätzlich müssen Traumata als kollektive Realität in den Blick kommen, da sie für gesellschaftlichen Wandel eine Rolle spielen. Belastungen können dazu führen, dass wir nur schwer wohltuende und nachhaltig gute Beziehungsweisen mit uns selbst oder einander aufbauen können. Traumata können uns auch politische Handlungskraft rauben. Traumata zu bearbeiten und zu heilen, kann daher auch eine gemeinschaftliche Aufgabe und ein kollektiver Prozess sein, der für emanzipatorische Transformation wichtig ist.

Vor allem Menschen, die konkrete Gewalt oder Diskriminierung erfahren haben, machen daher radikale kollektive Heilung als Transformationsansatz stark: In vielen Ländern Lateinamerikas beispielsweise prägen Frauen*, die sexuelle Übergriffe in militärischen Konfliktgebieten erlebt haben, diese Ansätze. Radikal meint dabei, dass der Heilungsprozess über die individuellen Erlebnisse und Wahrnehmung hinaus an die Wurzeln der gesellschaft­lichen, kollektiven Erfahrungen geht – und auch zum Anstoßpunkt für gesellschaftliche Veränderung werden will. Viele Jüd*innen verweisen in ihrem sozialen Engagement auf den gelebten jüdischen Grundsatz tikkun olam, was so viel bedeutet wie „die Welt reparieren oder heilen“. Für Schwarze Aktivist*innen ist Selbstfürsorge und Heilung ein Widerstandsakt dagegen, dass ihnen jahrhundertelang gesellschaftliche Empathie und Fürsorge verwehrt wurde. Mit einer solchen Praxis schaffen sich Menschen, die gesellschaftlich diskriminiert werden, wie Schwarze, queere, behinderte oder arme Menschen, selbst den Raum der Fürsorge, der ihnen von der Dominanzgesellschaft oft verweigert wird. Das kann die Grundlage bilden, um Wunden nicht an künftige Generation weiterzugeben.

Im lateinamerikanischen Kontext des feminismo comunitario, des kommunitären Feminismus, ist Heilung eng verbunden mit den spirituellen und mystisch-religiösen Traditionen und medizinischen Ansätzen indigener Gemeinschaften. Dahinter stehen komplexe Erfahrungen, Gefühle, Körperarbeit und Kosmovisionen, die wir nicht einfach zusammenfassen,

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aus dem Kontext reißen und auf europäische Bewegungen übertragen können. Aber wir können daraus lernen, wie Heilung für Transformation aussehen kann. Interpretationen, die das Konzept der Selbstfürsorge und Heilung aus den Traditionen verschiedener Kulturen aneignen, verschieben die Verantwortung oftmals auf Einzelne. Nach dem Motto: Mach Yoga, trink Tee, atme tief durch und dann kannst du als Individuum besser im neoliberalen Wettbewerb bestehen. Im Gegensatz dazu ist Heilung im feministischen, indigenen Verständnis des feminismo comunitario zwar auch ein individueller Prozess, jedoch immer in Gemeinschaft eingewebt. Wie das genau aussehen kann, erfahrt ihr unten im Beispiel.

Wichtig ist, dass individuelle Verletzungen ernst genommen werden. Es wird daher auch von individuellen Erlebnissen und Erfahrungen ausgegangen. Doch indem sie geteilt und über sie gesprochen wird, verwandeln sie sich in kollektive Erfahrungen. Wenn wir miteinander Schmerzen und Erfahrungen teilen, können wir die systemischen Hintergründe unserer Verletztheit begreifen. Durch die geteilte Erfahrung ebnen wir den Weg für eine gemeinsame Heilung. Während beispielsweise queere Menschen oder behinderte Menschen sich in der Dominanzgesellschaft oft erklären und behaupten müssen, können ihnen Räume Kraft geben, in denen die eigene Menschlichkeit und die Wahrheit der eigenen Perspektive nicht ständig bewiesen werden müssen. Heilung geschieht daher auch durch kollektive und einfühlsame Zugehörigkeit, dadurch dass wir Empathie und Verständnis erfahren. Diese Erfahrung gibt Energie für den aktivistischen Streit für eine sozial-ökologisch gerechte Gesellschaft. Der kollektive Austausch im Heilungsprozess selber wird damit zum gelebten Wandel: Wir verlernen im Heilungsprozess schmerzhafte und bauen gleichzeitig neue Beziehungsweisen des Gemeinsamen, des Mitfühlens, des Kooperierens auf (→ Baustein: SOLIDARISCHE BEZIEHUNGSWEISEN WEBEN).

Wer mit Trauma lebt, gilt gesellschaftlich oft als Opfer. Damit können Stigma und Scham verbunden sein. Doch kollektive Traumata rücken auch Stärke und Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, in den Blick. Menschen leben mit den grausamen Verletzungen und Wunden, die schon etliche Menschen vor ihnen oder an anderen Orten begleitet haben oder noch begleiten. Die Politikwissenschaftlerin und Aktivistin Emilia Roig sagt: „Wir sind keine Opfer, sondern Überlebende.“15 Es ist eine Stärke, die sich Menschen selbst, im Kollektiven, verschaffen, sie wird nicht von außen zugesprochen. Heilung wird zur Ermächtigung und Emanzipation.

Heilung bezieht sich dabei nicht nur auf die Wunden, die aus menschlichen Beziehungen hervorgehen. Es geht auch um die Verletzungen im Zusammenhang mit der nicht-menschlichen Welt. Verlust der Artenvielfalt, Wasserverschmutzung und Dürren durch Klimaveränderungen sind Verletzungen der nicht-menschlichen Welt, die maßgeblich menschengemacht sind. Gleichzeitig wirken sie auf uns Menschen zurück. Wangari Maathai, Professorin und Aktivistin, formulierte über diese Wunden, die Menschen der nicht-menschlichen Welt zufügen: „Der Einfluss [...] erstreckt sich nicht nur auf die Umwelt, in der wir leben, sondern auch auf das, was sich als unsere innere Ökologie bezeichnen ließe, unsere Seele und das Gefühl unseres Menschseins.“ Sie erklärt: „Wenn wir in einer verletzten Umwelt leben, in der das Wasser verschmutzt ist, die Luft voller Ruß und Rauch, die Nahrung mit Schwermetallen und Kunststoffrückständen verseucht ist [...], beschädigt das unsere Gesundheit und ruft körperliche, seelische und spirituelle Verletzungen hervor. [...] Doch auch das Umgekehrte trifft zu. Wenn wir die Heilung der Erde unterstützen, dann helfen wir uns auch selbst.“16 Heilungsprozesse umfassen demnach auch, sich auf andere, mitfühlende und fürsorgende Weise mit nicht-menschlicher Natur zu verbinden.

15 Emilia Roig (2021): Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung, S. 354

16 Wangari Maathai (2012): Die Wunden der Schöpfung heilen. Wie wir zu uns selbst finden, wenn wir unsere Erde erneuern. Herder, S. 15 und 11-12.

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Wie können kollektive Heilungsprozesse noch aussehen? Lorena Cabnal, indigene Kämpferin im Network of Ancestral Healers of Community Feminism, betont, dass es auch darum geht, wie sich unsere Schmerzen und Verletzungen, die individuellen und die kollektiven, in unsere Körper einschreiben. Sie setzen sich durch physische Schmerzen, Erschöpfung und in Träumen fest. Heilung beginne somit mit der Zusammenarbeit mit dem eigenen Körper – durch Tanz, Atemübungen, selbstbestimmte körperliche Nähe. Außerdem spielen künstlerische Elemente, die unsere Kreativität und unsere Herzen ansprechen, eine wichtige Rolle für Heilung und für Transformation. Kunst wird in dem Sinne verstanden als ein Weg, durch den Schmerz überwunden und gemeinsam ein heilender Umgang mit Verletztheit gefunden werden kann.

Die Chicana-Feministin Gloria Anzaldúa warnt, dass Heilung kein schneller Prozess ist. Kurzfristig mag es einfacher wirken, mit unseren Wunden zu leben, als uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Doch dass wir uns mit ihnen befassen, hilft, kollektive Stärke zu entwickeln, systemische Transformation voranzubringen und resilienter zu werden auf dem langen Weg der gesellschaftlichen Veränderung.

Beispiel 1: Das Leben weben, um zu heilen

Die Bewohner*innen des afrokolumbianischen Dorfes Mampuján wurden während des bewaffneten Konflikts in Kolumbien gewaltvoll vertrieben. Durch die schwierige ökonomische Situation, Arbeitslosigkeit und Frust nahm zusätzlich die häusliche Gewalt gegen die Frauen* der Gemeinde zu. Zwar verbesserte sich die Situation, als die Frauen* alternative Einnahmequellen entwickelten. Aber der Schmerz, den sie durch die Gewalt der Vertreibung und die Trauer um ihr altes Zuhause einerseits und durch die Misshandlungen andererseits erfahren hatten, belastete sie noch sehr stark. Angestoßen durch eine junge Frau der Gemeinde, Juana, erhielten die Frauen* der Gemeinde mithilfe eines Vereins psychosoziale Unterstützung. Doch sie merkten, dass diese Unterstützung ihnen nicht ausreichend helfen konnte. Stattdessen entwickelten sie auf dieser Basis einen eigenen Umgang mit dem Schmerz: Sie nähten Teppiche, in denen sie ihre Geschichten einwebten. Bei den gemeinsamen Webabenden teilten die Frauen* ihre Erfahrungen, ihr Leid, ihre Gefühle – es flossen Tränen der Wut und Trauer, die Teil der Teppiche wurden. Dass sie sich über ihre Schmerzen austauschen und sie gleichzeitig mit ihrer traditionellen Web-Technik in kunstvolle Objekte verarbeiten konnten, half den Frauen*, mit ihren Gewalterfahrungen zu leben.

Sie fanden diesen Umgang selbst so hilfreich, dass sie aufbrachen und mit Frauen* mit ähnlichen Erfahrungen in anderen Gemeinden Workshops durchführten. Bei diesen Workshops wurden Trauer und Schmerz in Teppiche gewebt und genäht, aber es wurde auch zusammen gekocht, gebetet und massiert. Die Teppiche, die Geschichten von Leid, Trauer, später auch von Hoffnung und Mut erzählten, wurden in ganz Kolumbien ausgestellt. Diese Ausstellungen ermöglichten, kollektive Gewalterfahrungen zu bearbeiten. Denn die Geschichte der Frauen* in Mampujan ist denen vieler Frauen* und Afrokolombianer*innen in Kolumbien ähnlich. Die Teppiche eröffneten damit auch einen Raum, um in einer von Konflikten geprägten Gesellschaft Transformation anzustoßen.

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Beispiel 2: Memory Boxes – individuelles Erinnern als gemeinsamer Heilungsprozess

Die afghanische Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO) macht Erinnerungsarbeit als Teil von Menschenrechtsarbeit und Friedensförderung. AHRDO schafft trotz der seit Jahrzehnten andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan Räume vor Ort, an denen Überlebende zusammenkommen, sich erinnern und erfahrenes Leid teilen. Mit Memory Boxes bekommen Hinterbliebene beispielsweise die Möglichkeit, Hinterlassenschaften – wie Gegenstände oder Fotos von Menschen, die den Krieg nicht überlebt haben – zu sammeln und auch anderen Menschen zugänglich zu machen. Das Ziel der Memory Boxes ist daher, unterschiedliche Erinnerungen zusammenzubringen. Menschen erfahren so, wie diese gemeinsame Erfahrung des langanhaltenden Konflikts das Leben anderer individuell beeinflusst. Diese Praxis spielt eine wesentliche Rolle für die Selbst­organisierung von Menschen, die von den kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen sind.  Die Memory Boxes entstehen während eines gemeinsamen Workshops von etwa einer Woche. In dieser Zeit wird Vertrauen zwischen den verschiedenen Menschen aufgebaut und eine Umgebung geschaffen, in der gemeinsam gearbeitet werden kann – mit dem Ziel, mehr Verständnis füreinander aufzubringen.

Zudem geht es bei den Memory Boxes darum, eine Kultur der Straflosigkeit herauszufordern. Ziel ist, eine Öffentlichkeit herzustellen, in der die Verbrechen und das Leid von Menschen auf einer persönlichen Ebene Platz finden und Gerechtigkeit eingefordert werden kann. Die Memory Boxes werden auch an ferneren Orten ausgestellt, um Bewusstsein für die Geschichte der Gewalt und des Leidens zu ermöglichen. Die Memory Boxes über Afghanistan hinaus zu zeigen, kann auch an anderen Orten Räume für die Geschichten von Menschen schaffen, deren Alltag ein gewaltvoller und unsicherer war – oder noch ist. Diese Alltage sichtbar zu machen, ist ein wichtiger Teil, um Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen.

Bitte beachtet bei den folgenden zwei Übungen: Die Auseinandersetzung mit Trauma und Heilung, mit Schmerz, Trauer und Wut, mit Scham, Erniedrigung und Gefühlen sowie mit Erinnerungen, die damit zusammenhängen, braucht in ganz besonderer Weise Räume, in denen Menschen vertrauen können und sich wohlfühlen. Die beiden beschriebenen Übungen sind als zwei Impulse zu verstehen, wie eine Auseinandersetzung damit im Kontext von Transformationsprozessen und in sozialen Bewegungen stattfinden kann. Die kollektive Auseinandersetzung mit Verletzungen, Erfahrungen und Erinnerungen sollte von jeder Gruppe ganz bewusst und sensibel mit allen Beteiligten erfolgen. Die Methode sollte an die Bedürfnisse der Gruppe angepasst sein. Diese Übungen können nicht eine professionelle Auseinandersetzung mit individuellen, traumatisierenden Erlebnissen ersetzen.

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Übung 1: Gefühlen Halt geben

Einleitung

Die folgende körperliche Übung mit Fingergriffen ist ein hilfreiches Werkzeug, um im täglichen Leben oder Bewegungsalltag Raum für Gefühle und Belastendes zu schaffen. Auch in schwierigen oder herausfordernden Situationen, wenn Tränen, Wut oder Angst aufkommen, können die Finger gehalten werden, um Ruhe, Trost und Fokus zu bringen. Sie kann auch ein Einstieg sein, um in Gruppen mit Emotionen zu arbeiten.

  • Ca. 15-20 Minuten (alleine),
  • Ca. 30-40 Minuten (zu zweit)
  • Alleine oder zu zweit
  • Kein Material

Ablauf

In dieser Übung werdet ihr eingeladen, jeden Finger einer Hand nacheinander mit der anderen Hand für etwa drei bis vier Minuten zu umfassen und euch dabei jeweils auf ein Gefühl zu konzentrieren. Hier die Liste der Finger, Gefühle und Fragen:

  • Daumen/Trauer: Bist du traurig? Woher kommen deine Tränen? Was löst in dir diese Trauer oder Schmerz aus?
  • Zeigefinger/Angst: Hast du Angst? Wovor? Wie fühlt sich deine Angst an?
  • Mittelfinger/Wut: Bist du wütend? Worüber? Woher kommt deine Wut? Wo spürst du sie?
  • Ringfinger/Sorgen: Bist du besorgt? Was macht dir Sorgen? Wie empfindest du sie?
  • Kleiner Finger/Selbstzweifel: Zweifelst du an dir? Stellst du dich in Frage? Wie fühlt sich das an? Wieso hast du Selbstzweifel?

Haltet einen Finger umfasst und atmet ein paar Mal tief ein und aus. Versucht dabei, euch auf das entsprechende Gefühl zu konzentrieren und in euch hinein zu spüren. Was empfindest du jeweils? Wie stark ist das Gefühl?

Wenn ihr an einem Finger in euch gespürt hab, fokussiert nun das Loslassen. Atmet weiter ruhig, aber konzentriert euch auf die Ausatmung, atmet gern auch durch den offenen Mund aus. Versucht, die belastenden Gefühle nun loszulassen. Ihr könnt sie auch aus dem Finger ausstreichen. Oder ihr stellt euch vor, wie dieses Gefühl durch euren Körper in die Erde fließt. Vielleicht spürt ihr ein Pochen im Finger, während es sich auf den Weg macht.

Variante

Da diese Übung aufwühlend sein kann, ist es auch schön, sie in einem vertrauten Rahmen zu zweit durchzuführen. Je nach Vertrauensgrad könnt ihr auch die Finger einer anderen Person halten und ihr die Fragen laut stellen, während ihr die Finger durchgeht. Die andere Person kann in Stille für sich oder laut der anderen Person die Fragen beantworten. Wechselt danach die Rollen.

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Quelle der Übung

Die Übung kommt ursprünglich aus Überlegungen zu körperlichen Energie- und Heilströmen aus der traditionellen japanischen Medizin. Sie wird aber auch unabhängig davon angewandt, um konzentriert in den Körper und in die eigenen Emotionen zu lauschen und mit Bewegung und Körper zu arbeiten. Hier findet ihr sie in unserer Anpassung.

Übung 2: Trauerhügel

Einleitung

Die folgende Übung könnt ihr als Ritual oder punktuellen Austausch in eure Gruppenarbeit integrieren. Ihr erschafft gemeinsam einen Hügel der Trauer, mit dem ihr euer Betroffensein über das, was auf der Erde direkt oder indirekt in eurem Lebensumfeld geschieht, persönlich und kollektiv zum Ausdruck bringen könnt.    

  • Je nach Gruppengröße, mindestens 45 Minuten
  • Idealerweise bis 15 Personen
  • Stift und Zettel

Ablauf

1. Spaziergang
“Was ist in unserer Welt bereits verloren oder droht, verloren zu gehen und worum trauerst du/trauert ihr?”

Macht mit dieser Frage im Kopf und im Herzen zunächst alleine einen Spaziergang. Haltet dabei nach Gegenständen Ausschau, die eure Herzen und euer Empfinden ansprechen und etwas Kostbares repräsentieren, was gerade in unserer Welt verloren geht oder schon verloren gegangen ist. Falls es nicht die Möglichkeit gibt, nach draußen zu gehen und einen Spaziergang zu machen, schließt die Augen und begebt euch auf einen imaginären Spaziergang. Schreibt die Gegenstände, die ihr imaginär sammelt, auf ein Blatt Papier. Für diesen kleinen Spaziergang nehmt euch mindestens 15 Minuten Zeit.

2. Trauerhügel aufschütten
Kommt danach alle wieder an einen gemeinsamen Ort zusammen und bildet einen Kreis. Nun könnt ihr in beliebiger Reihenfolge eure Gegenstände oder Symbole in der Mitte des Kreises ablegen und den anderen von dem Verlust erzählen, den ihr mit dem Gegenstand/Symbol verbindet und was dieser Verlust in euch auslöst. Verabschiedet euch jeweils von dem gewählten Gegenstand. Alle aus der Gruppe sind bei jedem Gegenstand, von dem sich die einzelnen aus der Gruppe verabschieden, Zeug*innen des Verlustes und würdigen die Trauer der Einzelnen – gerne auch mit Worten oder Gesten. Allmählich werden die abgelegten Gegenstände/Symbole in der Mitte des Kreises einen kleinen Hügel der Trauer bilden.

3. Ausklang
Zum Abschluss des Rituals ist es empfehlenswert, Paare oder Dreiergruppen zu bilden, um noch einmal, angesichts der Symbole/Gegenstände auf dem Hügel, die Trauer zu teilen, da sein zu lassen und euch gegenseitig aufzufangen. Diesen Moment könnt ihr auch in der gesamten Gruppe gemeinsam verbringen.

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Variante

Ihr könnt dieses Ritual auch in regelmäßigen Abständen wiederholen. Vielleicht habt ihr als Gruppe einen Ort, an dem ihr den Trauerhügel bestehen und wachsen lassen könnt? Dieses Ritual kann auch individuell durchgeführt werden, indem Personen ihren persönlichen Trauerhügel erschaffen.

Quelle der Übung

Die Übung haben wir mit leichten Veränderungen übernommen aus: Joanna Macy und Molly Brown (2014): Für das Leben! Ohne Warum. Ermutigung zu einer spirituell-ökologischen Revolution. Junfermannverlag, S. 157-158.

Zum Weiterstöbern

  • Emilia Roig (2021): Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung. Aufbau Verlag, insbesondere Kapitel 11: Das Ende der Unterdrückung, S. 319-370.
  • In our bodies – on the streets: Einführung, Kurse und Infos zu kollektiver Heilung durch generativ somatics.
  • Irresistible: Podcast über Heilung und soziale Gerechtigkeit mit praktischen Übungen.
  • Lorena Cabnal (2020): La sanación, un acto feminista emancipatorio. [auf Spanisch]
  • Staci Haines (2019): The politics of trauma. Somatics, Healing and Social Justice. North Atlantic Books.
  • Timo Luthmann (2018): Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. ­Unrast.
  • Wangari Maathai (2012): Die Wunden der Schöpfung heilen: Wie wir zu uns selbst finden, wenn wir unsere Erde erneuern. Herder.
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