Wie kommt der Wandel in die Welt?

Die Welt ist komplex und wandelt sich unaufhörlich. Doch den Wandel (mit)zugestalten ist häufig schwer. Jeder Masterplan wird scheitern. Doch was ­bedeutet dieses Wirrwarr für unser Verständnis von Transformation? Wie können wir ­strategisch handeln? Wie kommt der Wandel in die Welt?

Wir nutzen den Begriff der Transformation, um den Wandel von der imperialen zur solidarischen Lebensweise zu beschreiben (→ Einstieg: TRANSFORMIEREN IST EIN TU-WORT). Transformation beinhaltet die radikale, also grundlegende, Umgestaltung der imperialen Lebens- und Produktionsweise und der sie stützenden Institutionen, Wertesysteme und ihres Umgang mit der Natur. Für einen solchen tiefgreifenden Wandel gibt es keinen Masterplan. Auch der Kapitalismus wurde nicht am Reißbrett entworfen. Seit jeher gibt es Personen und Interessengruppen, die Innovationen und Änderungen in bestimmten Gesellschaftsbereichen anstoßen und durchsetzen. Einige Veränderungen erscheinen reizvoll und attraktiv, andere eher als unumgänglicher Zwang. Wie wir den Wandel wahrnehmen, hängt immer auch von unserer gesellschaftlichen Rolle ab: Wo leben wir? Was arbeiten wir? Wie interpretieren andere unseren Körper oder unsere Herkunft? Viele Auswirkungen des Wandels sind vorher nicht vorherzusehen. Radikaler Wandel vollzieht sich in vielen kleinen Schritten – mitunter auch größeren Brüchen –, die sich nicht alle planen lassen, in der Summe der Transformation aber eine Richtung geben (→ Baustein: EMERGENTE STRATEGIEN).

Es gibt auch Modelle von gesellschaftlichem Wandel, die linear argumentieren. Sie wollen uns glauben lassen, dass Transformation sich steuern lässt, zum Beispiel durch gezielten technischen Fortschritt: Wenn wir neue, bessere Technologien entwickeln und diese politisch gefördert werden, kommen wir so oder so zu einer nachhaltigeren Gesellschaft. Das lässt aber viele Aspekte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens außer Acht. Transformation ist vielmehr eine Suchbewegung. Dabei stehen die Vielfalt der möglichen Übergänge, Offenheit, Unplanbarkeit und die Entwicklung des Neuen aus Bestehendem im Fokus.

Gesellschaftlicher Wandel geht zudem immer mit Konflikten einher. Schließlich wollen viele der derzeitigen Profiteur*innen ihre Privilegien nicht aufgeben. Auch die Vorstellungen, was eigentlich eine solidarische, gerechte und lebenswerte Zukunft darstellt, sind unterschiedlich. Wir können außerdem nur selten unseren Idealen frei folgen, da uns Anforderungen von außen oder über Jahrzehnte erlerntes Verhalten zu einem anderen Handeln bewegen, als uns manchmal lieb ist. Sei es die Fernreise, die zwar ökologisch fragwürdig ist, aber „spannende“ Erfahrungen und Erzählungen verspricht, die Vernachlässigung von Sorge- und Beziehungsarbeit, weil wir zu viel Zeit für Lohnarbeit aufbringen müssen oder die Schwierigkeit, sich verletzlich zu zeigen und aus festgefahrenen Rollenbildern auszubrechen. Wenn wir derartige Konflikte ignorieren, riskieren wir ein Scheitern der Transformation, da wir die Beharrungskräfte unterschätzen. Davon auszugehen, dass es Win-Win-Situationen für alle gibt, blendet aus, dass viele, die sich gegen eine Transformation stellen, vor allem materiell, zumindest kurzfristig etwas zu verlieren haben. Es gilt, verschiedene Forderungen für das Gute Leben für alle zu verknüpfen und gleichzeitig gegen die

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Profiteur*innen des Status quo zu kämpfen (→ Baustein: KÄMPFEN STATT APPELLIEREN und KÄMPFE VERBINDEN).

Jedoch sind die Konfliktlinien dabei nicht klar zu erkennen, denn nicht nur politische oder wirtschaftliche Eliten erhalten den Status quo aufrecht. Er ist auch fest in den Rahmenbedingungen verankert, die vielen Menschen der globalen Ober- und Mittelklasse einen relativ komfortablen Alltag auf Kosten anderer ermöglichen (→ Kapitel: SOLIDARISCHE GEGENHEGEMONIE AUFBAUEN). Materielle Infrastrukturen wie Autobahnen, Kohlekraftwerke oder Pipelines und politische Institutionen, wie Parteien, Freihandelsabkommen oder Gesetze, tragen zu einer Stabilisierung des Status quo bei und erschweren Alternativen. Normalitätsvorstellungen, wie die Erwartung, dass Benzin billig ist und Putzen schlechter bezahlt wird als Büroarbeit, ermöglichen die Ausbeutung. Denn sie beschreiben ein Leben auf Kosten anderer als Vorstellung des Guten Lebens und machen die Ausbeutung in unserem Alltag weniger sichtbar. Es geht darum, die Welt in ihren materiellen, institutionellen und kulturellen Dimensionen umzubauen. Transformative Kämpfe finden daher nicht nur gegen die zerstörer­ischen Geschäftsmodelle großer Unternehmen statt, sondern auch in unserem Alltag, wenn etablierte Verhaltensmuster hinterfragt und neu eingeübt werden (→ Baustein: SOLIDARISCHCE BEZIEHUNGSWEISEN WEBEN).

Wie lässt sich in diesem unübersichtlichen Wirrwarr dennoch strategisch handeln? Der Soziologe Erik Olin Wright hebt das Zusammenspiel unterschiedlicher Strategien für eine gelingende Transformation hervor. Ein Zusammenwirken von

  • dem Widerstand gegen gegenwärtiges Leid,
  • dem Aufbau von Alternativen in Nischen,
  • realpolitischen Reformen, die die Lebensrealität für viele direkt verbessern, und
  • revolutionären Reformen, die einen grundlegenden gesellschaftlichen Umbau vorantreiben,

können seiner Meinung nach dazu führen, dass der Kapitalismus seinen Halt verliert. Strategien, die nur auf eine große Revolution, also einen abrupten und vollständigen Bruch mit dem alten System bauen, bergen nach Erik Olin Wrights Einschätzung und mit Blick in die

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Vergangenheit eine größere Gefahr, keine demokratischen und emanzipatorischen Strukturen zu erschaffen.10 Laut dem Sozialanthropologen Eduardo Gudynas folgten die bisherigen Revolutionen außerdem einem westlich-modernen Verständnis, bei der eine Entwicklungsweise gegen eine andere ausgetauscht wurde. Mit grundlegenden Konzepten der Moderne, zum Beispiel Wirtschaftswachstum, der Ausbeutung der Natur und technologischen Heilserwartungen, brachen bisherige Revolutionen nicht.11

Das Zusammenspiel der oben genannten Strategien kann laut Wright dazu führen, dass die derzeit dominanten Formen kapitalistischer Wirtschaftsweisen an Bedeutung verlieren, und nach und nach durch solidarische Alternativen verdrängt werden. Der Druck von unten durch soziale Bewegungen, das Experimentieren und die Entwicklung neuer Ideen sowie eine ermöglichende Politik ergänzen sich gegenseitig. Dies geschieht keineswegs automatisch und linear – Konflikte und Brüche gehören ebenso dazu, denn auch die Gegner*innen schlafen nicht (→ Kapitel: SOLIDARISCHE GEGENHEGEMONIE AUFBAUEN).

Was bedeutet das nun für unsere Strategien?

  • Wir sollten das Zusammenspiel der verschiedenen Akteur*innen analysieren und fördern – auch wenn sie unterschiedliche Meinungen haben, wie Wandel geschehen soll (→ Baustein: KEINE MUSS ALLEINE und KÄMPFE VERBINDEN).
  • Gesellschaftlicher Wandel trifft auf große Beharrungskräfte, und muss deshalb auch gegen starke Interessengruppen und den Staat durchgesetzt werden (→ Baustein: KÄMPFEN STATT APPELLIEREN).
  • Den Staat allerdings nur als Feind und nicht ebenfalls als einen Schauplatz im Ringen um gesellschaftlichen Wandel zu sehen, würde einen zentralen Hebel von Transformation ignorieren (→ Kapitel: GEGENHEGEMONIE UND STAAT).
  • Eine andere Welt muss vorstellbar und machbar erscheinen – dies kann durch Nischenprojekte geschehen, muss aber auch Ideen für größere Gesellschaftsstrukturen umfassen (→ Baustein: REALPOLITIK REVOLUTIONÄR GESTALTEN)

Da die Transformation nicht am Reißbrett planbar ist, müssen transformative Strategien dynamisch sein und durch kontinuierliche Reflexion an sich ändernde Bedingungen angepasst werden. Dadurch lässt sich die Entwicklung einer Strategie auch als Lernprozess beschreiben. Mensch lernt, die Umgebung besser wahrzunehmen, Prozesse und Muster zu verstehen und kann dadurch selbst immer gezielter das eigene Handeln ausrichten (→ Baustein: MIT EMERGENTEN STRATEGIEN FLEXIBEL BLEIBEN).

Zum Weiterstöbern

10 Erik Olin Wright (2019): Linker Antikapitalismus im 21. Jahrhundert. Was es bedeutet, demokratischer Sozialist zu sein. VSA.

11 Eduardo Gudynas (2019): Revolution. In: Ashish Kothari, Ariel Salleh, Arturo Escobar, Federico Demaria und Alberto Acosta (Hrsg.): Pluriverse. A Post-Development Dictionary. Tulika & Authors Upfront, S. 293-296.

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