Kämpfe verbinden

Umweltverbände setzen sich für den Umweltschutz ein, Gewerkschaften für die Arbeitsrechte ihrer Mitglieder, queerfeministische Gruppen für die Rechte von Frauen und Queers, migrantische Organisationen für die Rechte von Migrant*innen. Thematische Schwerpunkte sind in der Bewegungsarbeit sinnvoll und notwendig, denn es sollen konkrete Probleme adressiert und konkrete Verbesserungen erzielt werden. Da werden Ansprechpersonen gesucht, Zielgruppen definiert, Themen gesetzt und Arbeitspakete geschnürt. Soziale Bewegungen sind oft spezialisiert auf bestimmte Themen und Probleme. Die Spezialisierung geht manchmal mit Professionalisierung einher, deswegen ist teilweise auch von ­NGO-isieung die Rede. Das wird in Verbindung damit gebracht, dass NGOs (dt. NRO = Nicht-Regierungsorganisationen) Widerstand depolitisieren, wenn sie zum Beispiel zunehmend betriebswirtschaftlich organisiert und von privaten Geldgeber*innen abhängig werden.

So wichtig Spezialisierungen in sozialen Bewegungen sind, so wichtig ist es, Kämpfe nicht losgelöst voneinander zu sehen: „Es gibt keinen Kampf um ein einziges Thema, weil wir kein Leben mit nur einem einzigen Thema führen“, schrieb die Schwarze lesbische Aktivistin Audre Lorde.21 Wollen Bewegungen systemische Veränderungen angehen, intersektional handeln und Solidarität üben, dann müssen sie ihre Kämpfe mit denen anderer verbinden. Nur so lässt sich eine gerechte Gesellschaft für alle gestalten.

Viele Aktivist*innen sehen, dass das Verbinden von Kämpfen ein notwendiges strategisches Mittel ist. Doch die realen Belastungen des (Mehrfach-)Aktivismus machen es schwer, das Ziel in die Tat umzusetzen: Menschen an der Basis sind mit ihren Kämpfen oft überlastet und können in vielen Fällen keine zusätzliche Energie und Inspiration in die überthematische Vernetzung stecken. Dabei liegt in dem Austausch mit anderen Aktiven auch eine Quelle für Kraft, praktische Unterstützung und Lernerfahrungen. Anstatt weiter davon auszugehen, dass die Kämpfe „irgendwie zusammengehören“, ist es lohnend, in kritisch-konstruktiven Auseinandersetzungen herauszufinden, wie bestimmte Probleme miteinander verknüpft sind. Es muss nicht immer die große, globale Vernetzung sein. Schon eine solidarische Bezugnahme auf andere Gruppen und ihre Kämpfe, eine Auseinandersetzung mit ihren Inhalten oder Soli-Fotos und -Stellungnahmen sind gute Anfänge und eine Grundlage für Vernetzung. Ausgehend von solchen Aktionen, wird es leichter zu konkretisieren, wie alternative und emanzipatorische Bündnisse gedeihen und Kämpfe zu etwas Gemeinsamen verbunden werden können.

21 Im englischen Original: “There is no such thing as a single issue struggle because we do not live single issue lives.” Audre Lorde (2007): Learning from the 60s. In: Sister Outsider: Essays & Speeches. Crossing Press, S. 134-144.

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Beispiel 1: Unteilbar zusammenstehen

Ein beeindruckendes Beispiel für eine übergreifende und empowernde Vernetzung mit breitenwirksamer Mobilisierung ist das Unteilbar-Bündnis. Das Bündnis setzt sich für eine offene und freie Gesellschaft und für Solidarität statt Ausgrenzung ein. Es mobilisierte zwischen 2018 und 2020 mehrere hunderttausend Menschen in verschiedenen deutschen Städten. Die Breite des Bündnisses wird mit Blick auf die unterzeichnenden Organisationen sichtbar: Von Amnesty International bis zum Zentralrat deutscher Sinti und Roma, von der Tafel bis zur Interventionistischen Linken. Diese breit angelegte Mobilisierung war vor allem eine Antwort auf rassistische Übergriffe und Demonstrationen in verschiedenen deutschen

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Städten 2018. Das Bündnis schreibt: „Die Demonstrationen machten deutlich, dass die Zivilgesellschaft angesichts entsicherter Zeiten, stärker werdendem Hass und politischem Autoritarismus – trotz unterschiedlicher Perspektiven und Ausgangspunkte – zusammensteht. #unteilbar setzt sich für eine solidarische Gesellschaft der Vielen ein – wir kämpfen gemeinsam gegen jegliche Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Antifeminismus, gegen die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten, gegen Sozialabbau und Verarmung – für eine offene und freie Gesellschaft.“22

Beispiel 2: Für ein antirassistisches Klima

Ein anderes Beispiel, das gut zeigt, wie Kämpfe miteinander verbunden werden können, ist die Auseinandersetzung der Klimagerechtigkeitsbewegungen mit Kolonialismus und Rassismus – auch in der eigenen Bewegungspraxis. Insbesondere Menschen, die selber Rassismus erfahren, haben sich dafür stark gemacht, dass es Workshops auf Klimacamps, Vernetzungsstrukturen, Interventionen bei politischen Aktionen oder neu geschaffene Räume wie die BIPoC Climate Justice Konferenz Ende 2020 gibt. Diese Formate thematisieren das Lernen vom Globalen Süden, Zusammenhänge zwischen Klimakrise mit Herrschaftsverhältnissen, weiße Privilegien und die eigene Verwicklung in ausbeuterische Strukturen. Auch wenn die Klimagerechtigkeitsbewegung hier noch einen weiten Weg zu gehen hat, konnten auf diese Weise doch klimapolitische und antirassistische Aktionen und Prozesse stärker aufeinander bezogen werden.

Übung: Connecting Movements

Einleitung

Die folgende Reflexionsübung möchte euch helfen, euch mit euren bisherigen Vernetzungserfahrungen auseinanderzusetzen. Denn Kämpfe verbinden ist schnell gesagt, aber schwer gemacht. Nicht selten machen Bewegungen die Erfahrung, dass Vernetzung mühsam ist und sich in langen Diskussionstreffen verliert, statt in fruchtbarer gemeinsamer Arbeit zu münden. In der Übung geht es daher nicht so sehr darum, wie wir identifizieren, mit welchen anderen Kämpfen wir uns verbinden wollen. Stattdessen wollen wir uns in der Übung darauf konzentrieren, was es für eine funktionierende strategische Vernetzung verschiedener Kämpfe braucht, welche Herausforderungen es gibt und welche Fragen wir uns dafür stellen können.

22 Unteilbar denken – ein öffentlicher Think Tank

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  • Ca. 75 Minuten
  • 2-20 Teilnehmende
  • Fragenliste ausgedruckt
  • Stifte und Notizzettel für Stillarbeit
  • Moderationskarten und Stifte

Ablauf

1. Stille Reflexion (15 Minuten)
Im Folgenden haben wir Impulse rund um Vernetzung von Kämpfen in drei Bereiche aufgeteilt: strategische Ausgangslage, Struktur und Kultur. Im Kasten auf der nächsten Seite seht ihr eine Liste von Reflexionsfragen und Praxis-Hinweisen zu diesen drei Bereichen. Lest zunächst die Fragen und Hinweise in Stillarbeit und macht euch Gedanken dazu.
Folgende Fragen begleiten euch während der Lektüre:

  • Was spricht euch an? Was lässt euch an vergangene Vernetzungserfahrungen (positive oder negative) denken?
  • Was ist unerwartet oder steht im Gegensatz zu eurem eigenen Ansatz oder eurer gängigen Praxis?
  • Eröffnet euch eine Frage neue Zugänge und Gedanken? Wenn ja, welche?
  • Woran stört ihr euch?

Notiert euch gern einige Eindrücke zu den Fragen.

2. Austausch zu zweit (30 Minuten)
Kommt danach zu zweit zusammen, um eure Eindrücke zu teilen und zu besprechen. Einigt euch dann auf zwei Fragen oder Gedanken, die ihr beide für eure Gruppe besonders wichtig findet. Schreibt diese zwei Fragen/Gedanken jeweils in Stichworten auf eine Moderationskarte.

3. Austausch in der Großgruppe (30 Minuten)
Kommt zurück in die Gesamtgruppe und tragt reihum eure Gedanken vor und legt dabei die Moderationskarte in der Mitte der Gruppe auf den Boden. Ihr könnt bei der Vorstellung gern auch schon Gedanken und Fragen sortieren, die zusammenpassen. Tauscht euch über die Gedanken der Kleingruppen aus. Was nehmt ihr daraus für eure jetzige und künftige Vernetzungsarbeit mit anderen Kämpfen mit? Überlegt euch, wie ihr die Ergebnisse eurer Gruppendiskussion festhalten könnt, um zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal gemeinsam auf euren Diskussionszwischenstand zu schauen. Eine Option ist beispielsweise, ein Diskussionsprotokoll zu schreiben. Eine andere Möglichkeit könnte sein, dass ihr euch gemeinsam auf vier wichtige Punkte aus der Diskussion einigt. Schaut, was für eure Gruppe und Strukturen am besten passt.

Quelle der Übung

Die Übung haben wir neu erarbeitet, inspiriert von folgenden Publikationen:

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1. Strategische  Ausgangslage

Wer sich vernetzen will, sollte sich über die eigenen Ziele und Stärken bewusst werden – und von da ausgehend überlegen, mit wem ein stärkeres „Wir“ aufgebaut werden soll.

Reflexionsfragen:

  • Was sind unsere Stärken, die wir in verbundene Kämpfe einbringen können?
  • Was erhoffen wir uns von der Vernetzung mit anderen Kämpfen?
  • Wie viel Kapazitäten und Zeit können und wollen wir in Vernetzung einbringen?
  • Wen möchten wir erreichen und wie können wir diese Gruppen ansprechen und einbeziehen?

Praxis-Tipps:
Seid ehrlich zueinander über die Motivation und eigene Hintergründe und Ziele der Vernetz­ung. Es ist ok, dass ihr eure eigenen Interessen habt. Teilt eure Überlegungen, Zweifel und die Chancen, die ihr seht.
 
2. Struktur

Vernetzung scheitert oft am richtigen Maß an Struktur. Ist es zu wenig Struktur und ist es beispielsweise unklar, wer Entscheidungen trifft oder wer Treffen vorbereitet? Oder zu viel Struktur, die Aktivist*innen mit einer Parallelstruktur zusätzlich zu ihren eigenen Treffen, Aufgaben und so weiter völlig überfrachtet? Eine richtige Balance ist hier zentral.

Reflexionsfragen:

  • Welche Strukturen brauchen wir, um gemeinsam stark zu sein?
  • Wie treffen wir gemeinsame Entscheidungen?
  • Wer übernimmt welche Aufgaben in vernetzten Kämpfen?
  • Welche Strukturen helfen uns, mit Konflikten umzugehen?

Praxis-Tipps:
Vernetzung wirkt nicht nur nach außen; nehmt euch ausreichend Zeit, vertrauensvolle Bezieh­ungen miteinander aufzubauen.

Haltet die Balance: Es sollte unterm Strich mehr Energie in die Außenwirkung der Vernetzung fließen als in den Vernetzungsprozess selbst. Ist das nicht der Fall, überdenkt eure Strukturen und Abläufe.
 
3. Kultur

Die Verbindung von Kämpfen ist letztlich die Verbindung von Menschen, die diese Kämpfe führen. Es geht also darum, vertrauensvolle, gute Beziehungen zwischen verschiedenen Kämpfen aufzubauen. Hierbei spielt auch ein Bewusstsein für die verschiedenen politischen Kulturen sozialer Bewegungen eine Rolle, damit eine gute Atmosphäre der Zusammenarbeit entstehen kann.

Reflexionsfragen:

  • Welche Werte teilen wir als vernetzte Kämpfe?
  • Welche Beziehungsweisen wollen wir miteinander aufbauen? Wie kommunizieren wir miteinander?
  • Wie können wir Vertrauen aufbauen?
  • Welche Spannungen entstehen? Wie gehen wir damit um?
  • Inwiefern unterscheiden sich die politischen Kulturen unserer Kämpfe? Wie können wir diese zusammenbringen?
  • Wie fühlt es sich an, Teil dieser Vernetzung zu sein?
  • Welche Verbindlichkeit besteht in der Vernetzung und zwischen den Menschen, die Teil der vernetzten Gruppen sind?

Praxis-Tipps:
Versucht aus dem zu schöpfen, was schon da ist. Es kann eine Chance sein, Netzwerke von Kämpfen rund um bereits bestehende persönliche Beziehungen aufzubauen. Hier ist der Grundstein für einen vertrauensvollen Umgang schon gelegt. Wechselt die Verantwortlichkeit für die Vorbereitung und Durchführung der Vernetzungstreffen, sodass sich in den Treffen verschiedene Gruppengewohnheiten oder politische Kulturen bestimmter Bewegungen widerspiegeln können. So lernt ihr einander besser kennen, könnt Vertrauen aufbauen und eine gemeinsame Kultur entwickeln.

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Zum Weiterstöbern

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