Zu Verbündeten und Kompliz*innen werden

Wer weiß, cis-männlich und heterosexuell ist und aus einem akademischen Haushalt kommt, wird nicht rassistisch beleidigt, erzielt leichter schulische und berufliche Erfolge und findet einfacher eine Wohnung. Wenn ihr also aufgrund der eigenen gesellschaft­lichen Position privilegiert seid, seid ihr von vielen gesellschaftlichen Problemen nicht in gleichem Maße negativ betroffen wie andere. Das heißt aber nicht, dass sie euch nichts angehen. Vielleicht macht euch das Leiden anderer betroffen und ihr wollt etwas daran ändern, dass eure Privilegien auf Kosten anderer gehen und euch ein Stück eurer Menschlichkeit nehmen. Die Frage ist dann: Wie könnt ihr solidarisch handeln und zu Verbündeten werden? Als Verbündete (auf Englisch: Ally) seid ihr euch eurer Privilegien bewusst und entscheidet euch, Menschen, die Diskriminierungserfahrungen machen, zu unterstützen und am Abbau von Unterdrückungssystemen mitzuwirken. Privilegierte Menschen profitieren von Unterdrückungssystemen und haben daher auch eine Verantwortung, Kämpfe zur Überwindung der strukturellen Unterdrückung zu unterstützen. Gleichzeitig verspricht die Abschaffung von Unterdrückung ein besseres Leben für alle, auch für privilegierte Menschen. Queer-Aktivist*in und Künstler*in Alok Vaid-­Menon antwortet auf die Frage, was mensch tun kann, um die Kämpfe nicht-binärer Menschen zu unterstützen: „Kommt nicht zu mir, weil ihr mich beschützen oder mir helfen wollt. Ich brauche eure Hilfe nicht. Ich habe ein unerschütterliches und unwiderrufliches Bewusstsein darüber, wer ich bin ... Ich möchte, dass wir die Frage umformulieren in: ‚Bist du bereit zu heilen‘?“23 Für die Transformation zu einer befreiten Gesellschaft ist es wichtig, gemeinsam und solidarisch gegen Ungleichheiten und Unterdrückung zu kämpfen (→ Baustein: BETROFFENSEIN IN STÄRKE VERWANDELN).

Solidarisches Handeln hat einige Fallstricke. Zu sagen, dass mensch sich an die Seite von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen stellt, ist viel einfacher gesagt als tatsächlich ein Ally zu sein. Allyship sollte kein Label sein, das sich schnell wieder ablegen lässt, wenn es aus der Mode kommt. Ein Ally ist nicht in erster Linie etwas, was mensch ist, sondern etwas, was mensch tut. Es bedeutet, aktiv zu werden und ins Handeln zu kommen. Um diesen Prozess zu unterstützen, haben Aktivist*innen Ratgeber zu How to be an Ally verfasst, die unten verlinkt sind. Daraus haben wir folgende Punkte sinngemäß übernommen, die sich in erster Linie an Menschen in privilegierten Positionen richten:

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1. Check deine Privilegien!

Ein erster Schritt auf dem Weg zum Ally ist, sich der eigenen Privilegien bewusst zu werden und zu verstehen, wie sich diese vorteilhaft in der eigenen Biographie und im Alltag auswirken. Ein intersektionaler Blick (→ Baustein: INTERSEKTIONAL HANDELN) auf die eigene Eingebundenheit in Machtverhältnisse hilft dabei, offenzulegen, wie Privilegien und Diskriminierungen in der eigenen Person zusammentreffen. Eigene Privilegien zu erkennen und sich bewusst zu machen, wie diese mit Diskriminierung anderer zusammenhängen, ist ein erster Schritt, um Privilegien zu beseitigen beziehungsweise sie einzusetzen, um Kämpfe marginalisierter Gruppen zu unterstützen. Das Nachdenken über die eigenen Privilegien ist wichtig, darf aber nicht zu einer individuellen Beichte werden.

2. Bilde dich weiter und höre zu!

Es ist deine eigene Verantwortung, dich weiterzubilden und deine Leerstellen zu erkennen. Suche nach Filmen, Videoclips, Büchern, Artikeln und Tweets über die Geschichte und Gegenwart der Kämpfe marginalisierter Communities und achte darauf, welche Rolle die Dominanzgesellschaft in der Aufrechterhaltung von Unterdrückung spielt. Diversifiziere deine Social-Media-Feeds. Du kannst auch an Trainings beispielsweise zu Antirassismus,

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Antisemitismus oder Anti-Ableismus teilnehmen, um dich intensiver mit deinen Verstrickungen in Unterdrückungsverhältnissen auseinanderzusetzen. Wenn mensch mit dir über seine*ihre Erfahrungen mit Diskriminierung spricht, dann solltest du aufmerksam zuhören, die Person ernst nehmen und Erfahrungen nicht relativieren oder absprechen.

3. Fehler werden passieren – lerne daraus!

Fehler werden passieren. Wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und wie wir denken, haben wir von klein auf gelernt. Das ist kein Freifahrtschein, um diskriminierendes Verhalten zu entschuldigen. Aber wenn die Angst, etwas falsch zu machen, zu Lähmung führt, ist damit nichts gewonnen. Wenn dich eine Person auf deine Fehler anspricht, versuche, nicht in einen Verteidigungsmodus zu verfallen und Vorwürfe zu entkräften, sondern höre zu und versuche nachzudenken, ob da etwas dran ist und entschuldige dich gegebenenfalls. Wenn du merkst, dass dir etwas Unbehagen bereitet, schiebe es nicht von dir weg, sondern nimm dir Zeit, dich damit auseinanderzusetzen und sieh es als eine Lerngelegenheit und einen Suchprozess.

4. Misch dich ein!

Wenn du im Alltag, in der Schule, an der Uni, am Arbeitsplatz, in der Familie oder in deiner Politgruppe diskriminierende Äußerungen hörst, dann sprich die sich diskrimierend äußernde Person darauf an. Wenn du einen körperlichen oder verbalen Übergriff beobachtest, interveniere mit der Erlaubnis der betroffenen Person und konzentriere dich darauf, sie zu unterstützen, statt auf die angreifende Person einzugehen.

5. Begib dich in Kompliz*innenschaft!

Die eigene Auseinandersetzung mit verinnerlichten Unterdrückungsverhältnissen ist w­ich­tig. Sie allein führt aber noch nicht zu systemischen Veränderungen. Werde daher v­om Ally zur*zum Kompliz*in. Schließ dich Gruppen an, die sich gegen Unterdrückung einsetzen, oder trag diese Themen in die Gruppen, in denen du jetzt schon aktiv bist. Frag dich: Siehst du Unterdrückung ausschließlich als Problem für diskriminierte Menschen? Oder siehst du Unterdrückung als Problem für die gesamte Gesellschaft und somit auch für dich? So ist beispielsweise Rassismus in erster Linie ein Problem für BIPoC, die dadurch stark benachteiligt werden oder deswegen Gewalt erfahren. Rassismus ist aber auch ein Problem für weiße Menschen, weil sie die Verantwortung für die Aufrechterhaltung von ­Unter­­drü­­­ck­ungs­systemen tragen und weil Rassismus ihre Empathiefähigkeit einschränkt und Ängste und Schuldgefühle hervorrufen kann.

Überleg also, was du zu gewinnen und verlieren hast, wenn Diskriminierung und Privilegien abgebaut werden, um dir deiner Motivation klarer zu werden. Solidarität ist nicht ­Charity. Wenn es dir darum geht, anderen zu helfen, aber dich selbst und die Gesellschaft nicht infrage zu stellen, leistest du den Anliegen marginalisierter Gruppen möglicherweise einen Bärendienst. Der gemeinsame Horizont einer befreiten sozial-ökologischen Gesellschaft sollte daher handlungsleitend sein. In den Worten einer Aboriginal-Rights-Aktivist*innen aus Australien: „Wenn du hierher gekommen bist, um mir zu helfen, verschwendest du deine Zeit. Aber wenn du gekommen bist, weil deine Befreiung mit der meinen verbunden ist, dann lass uns zusammenarbeiten.“ Solidarität als Allyship und Kompliz*innenschaft bedeutet, sich längerfristig und auch in schwierigen Situationen Kämpfen gegen Unterdrückung zu widmen. Als Ally und Kompliz*in lernst du, zu verstehen, welche Rolle du in diesen Kämpfen einnimmst und was sie mit dir und deiner Position in gesellschaftlichen Machtstrukturen zu tun haben.

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Beispiel: Wann Allyship erfolgreich ist – und wann nicht

Ein Beispiel für Allyship sind die Sit-in-Proteste der Disability-Rights-Bewegung, einer Bewegung von behinderten Menschen, die sich für Gleichberechtigung einsetzen. Während der Sit-in-Proteste im April 1977 in den USA kümmerten sich Mitglieder der antirassistischen Schwarzen Bewegung der Black Panthers mit einer mobilen Küche in den besetzten Regierungsgebäuden um die Essensversorgung der Demonstrant*innen. Die Anerkennung eigener Privilegien ermöglicht Solidarität, auch von Menschen, die in einer Hinsicht privilegiert und in anderer benachteiligt sind (→ Baustein: INTERSEKTIONAL HANDELN).

Welche wichtige Rolle Solidarisierung spielt, wenn es darum geht, ob wir soziale Kämpfe gewinnen oder verlieren, zeigen die wilden Streiks migrantischer Arbeiterinnen in den 1970er Jahren.  Im August 1973 streikten die Arbeiterinnen beim Neusser Automobilzulieferer Pierburg. Zu der Zeit waren 70 % ausländische Mitarbeiter*innen, der Großteil Frauen. Weil die weiblichen Beschäftigten deutlich weniger verdienten als ihre männlichen Kollegen, traten sie mit der Forderung „1 Mark mehr“ in einen unbefristeten Streik. Die sogenannten Gastarbeiterinnen aus Süd- und Südosteuropa traten den Arbeitskampf los und spielten eine zentrale Rolle bei diesem wilden Streik. Arbeitgeber, Politik und Medien versuchten, die Streikenden zu kriminalisieren und einzuschüchtern. Die Polizei ging mit Gewalt und rassistischen Angriffen gegen die streikenden Frauen vor. Als Reaktion auf diese Angriffe kam es zu einer enormen Solidarisierungswelle vonseiten der deutschen Kolleginnen. Zu den insgesamt 1.800 migrantischen Streikenden gesellten sich 400 deutsche Kolleginnen. Gemeinsam legten sie den Betrieb lahm. Der große Druck, der durch die Solidarisierung entstand, war erfolgreich. Die diskriminierende unterste Lohngruppe, der migrantische Frauen angehörten, wurde abgeschafft und gleichzeitig der Lohn für alle Mitarbeiter*innen erhöht.

Wie Allyship nicht geht, ließ sich teilweise bei den Black Lives Matter-Protesten beobachten, denen sich auch weiße Menschen anschlossen. Vertreter*innen von Black Lives Matter kritisierten, dass es nicht damit getan ist, wenn beispielsweise unter dem Hashtag #blackouttuesday weiße Menschen einen Tag lang schwarze Kacheln auf ihre Social-Media-Profile als Solidaritätsbekundung stellen. Die Schwarze Bloggerin Latham Thomas bezeichnete dies als „Optical Allyship“, bei dem es darum geht, sich anderen gegenüber als Ally zu präsen­tieren und dafür Beifall zu bekommen, sich darüber hinaus aber nicht für Kämpfe gegen Unterdrückung einzusetzen. Thomas’ Antwort: „Show up for life, not for likes!“24

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Übung: Ally Skills üben

Einleitung

Mit dieser Weiterbildungsübung erfahrt ihr mehr darüber, wie ihr in verschiedenen Situationen als Ally handeln könnt. In einem zweiten Schritt setzt ihr euch Ziele, um zu üben, als Ally zu handeln.

  • Ca. 120 Minuten
  • Min. 2 Teilnehmende
  • Internetfähiges Gerät, um Video abzuspielen
  • Pro Person ein Zettel und Stift

Ablauf

1. Vorbereitung (min. 45 Minuten)
Nehmt euch die Zeit, noch einmal die Liste auf Seite 78 und 79 zu lesen und euch bewusst zu machen, wie ihr Ally Skills entwickeln könnt. Wählt zudem mindestens drei Quellen bei „Zum Weiterstöbern“ aus, die ihr jede*r für sich oder gemeinsam lest oder anschaut. Notiert euch Verständnisfragen oder Dinge, die ihr als neu, erhellend, überraschend, bewegend wahrgenommen habt.

2. Nachbesprechung in der Großgruppe (30 Minuten)
Nehmt euch nun Zeit, um Verständnisfragen und Eindrücke aus dem Gelesenen/Gesehenen nachzubesprechen. Was war neu für euch? Was hat euch überrascht? Wie fühlt ihr euch mit dem neu gewonnenen Wissen?

3. Erkenntnisse teilen (45 Minuten)
Kommt anschließend in der großen Runde wieder zusammen und teilt eure Erkenntnisse und besprecht gemeinsam, wie Allyship und Kompliz*innenschaft gelingen kann.

4. Ziele setzen (35 Minuten)
Nun überlegt jede*r für sich, in welcher alltäglichen Situation du als Ally handeln könntest. Es kann eine Situation sein, die du erlebt oder beobachtet hast oder eine fiktive Situation, in der eine marginalisierte Person, die nicht du bist, Unterdrückung, Benachteiligung oder Ausgrenzung widerfährt. Schreib die Situation auf (zum Beispiel: beim Familienessen macht eine Person eine rassistische Bemerkung; beim Polit-Plenum wird der Einwand einer queeren Person ständig überhört; im Büro werden Witze über einen Kollegen gemacht, weil er als einziger nicht mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt).

Schreib als nächstes 1-3 Arten von Privilegien oder Machtpositionen auf, die du hast und die für die Situation von Bedeutung sind (zum Beispiel: Geschlecht, Körpernorm, hohes Ansehen in der Gruppe oder hohe Position in der informellen Gruppenhierarchie).

Notiere 1-3 mögliche Maßnahmen, die du ergreifen könntest, um auf die von dir geschilderte Situation zu reagieren oder sie zu verhindern.

Notiere 1-3 mögliche Personen oder Ressourcen, die du zu den von dir überlegten Maßnahmen zu Rate ziehen könntest (zum Beispiel: ein*e Freund*in, ein Buch, eine*n Genoss*in, einen Insta-Account).

Findet euch nun zu zweit zusammen. (Oder such in deinem Umfeld eine Person, mit der du dich austauschen möchtest.) Erzähl der anderen Person von deinem Entschluss, in dieser möglichen Situation als Verbündete*r zu handeln, damit diese dich bei deinem Vorsatz unterstützen kann. Verabredet euch, um euch regelmäßig über eure Ally Skills und euer

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Handeln als Ally auszutauschen – bezogen auf diese mögliche Situation, aber auch allgemein. Fragen, die euch dabei leiten können, sind: Wie geht es euch in dem Versuch, ein (besserer) Ally zu werden? Welchen Herausforderungen begegnet ihr? Welche Fehler habt ihr gemacht? Wie seid ihr damit umgegangen? Was gibt euch Kraft? Was habt ihr Neues gelernt? Wovor habt ihr Angst? Was bringt euch Freude? Wo seht ihr Veränderung?

Nehmt euch für diesen letzten Teil beim ersten Mal mindestens 20 Minuten Zeit, damit jede Person mindestens 10 Minuten erzählen kann. Hilfreich ist es, wenn ihr euch immer mal wieder Zeit für den Austausch nehmt.

Quelle der Übung

Die Übung haben wir aus bestehendem Material angepasst.

Wir haben diese Übung am letzten Tag der Redaktion noch einmal geändert. Ursprünglich haben wir an dieser Stelle auf einen Video-Workshop verwiesen, der unserer Einschätzung nach gut in die Thematik Allyship einführt. Am letzten Redaktionstag haben wir nach einiger Recherche in den Tiefen des Web-Archivs Hinweise darauf gefunden, dass die sich als feministisch begreifende Autorin des Videos sich unsolidarisch und ausschließend gegenüber queeren Personen geäußert hat und eigene Privilegien genutzt hat, um die Kritik queerer Personen mundtot zu machen. Allyship sieht anders aus! Daher haben wir uns entschlossen, dieser Person an dieser Stelle keine Bühne zu bieten und die Übung auf den letzten Drücker zu verändern. Bitte habt daher Verständnis dafür, dass die Übung an dieser Stelle etwas improvisiert erscheint.

Zum Weiterstöbern

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