Geschichten des Wandels erzählen

Menschen erschließen sich die Welt durch Erzählungen. Eine wichtige Aufgabe transformativer Bewegungen ist es, transformative Erzählungen zu schaffen. Erzählungen von sozialen Bewegungen haben grundsätzlich drei zentrale Funktionen. Erstens legen sie gesellschaftliche Probleme offen und skandalisieren Ungerechtigkeiten. Sie bestimmen die Ursache von Problemen und benennen die Verantwortlichen. Zweitens weisen sie darauf hin, was sich ändern muss und wie das geschehen kann. Sie entwickeln Alternativen zum Status quo, stellen politische Forderungen und verfolgen Ideen, wie diese durchzusetzen sind. Drittens rütteln sie Menschen auf, machen sie wütend auf die herrschenden Zustände und geben ihnen Hoffnung auf Veränderung, wenn sie sich der Bewegung anschließen. Transformative Erzählungen richten sich dementsprechend auf die

Seite 83

systemischen Ursachen für Zerstörung, Ausbeutung und Unterdrückung (→ Baustein: SYSTEMISCH DENKEN STATT SCHEUKLAPPENBLICK). Sie entwickeln systemische Alternativen, die wünschenswert, machbar und durchsetzbar sind. Sie kanalisieren die Wut, Enttäuschung und den Schmerz vieler Menschen und machen Hoffnung auf Veränderung.

Gute Erzählungen berühren Menschen, sie lassen das Kopfkino angehen und ziehen in ihren Bann. Gute Erzählungen haben einen mitreißenden Plot, in dem Aktivist*innen die Protagonist*innen sind, die mit ihren Gegner*innen in Konflikte geraten und die sich am Ende durchsetzen oder sich trotz Niederlagen aufrappeln und weiterkämpfen. Eine Erzählung ist überzeugend, wenn ihre Themen für das adressierte Publikum von Bedeutung sind und wenn sie an bestehende kulturelle Werte, Überzeugungen, Metaphern und Mythen wie auch an Alltagserfahrungen anknüpft. Sie sollte also nah am Leben ihres Publikums sein und konkret Dinge benennen. Und schließlich ist es wichtig, dass das Publikum die Erzähler*innen als glaubwürdig einstuft. Das gelingt, wenn die Erzähler*innen die Erzählungen verkörpern, ihre Handlungen mit der Message übereinstimmen und wenn ihre Behauptungen nicht aus der Luft gegriffen scheinen oder als weltfremde Utopien abgetan werden.

Das Besondere an transformativen Erzählungen ist, dass sie möglichst viele emanzipatorische Anliegen aufnehmen und Verbindungen zwischen diesen herstellen. Sie geben verschiedenen emanzipatorischen Kämpfen eine diskursive Klammer. Möglichst breite und inklusive Erzählungen über Gerechtigkeit, Solidarität oder über ein Gutes Leben für alle können eine gemeinsame Sprache anbieten und eine Grundlage für breite transformative Allianzen darstellen (→ Baustein: KÄMPFE VERBINDEN).

Transformative Erzählungen werden allerdings nicht am Schreibtisch einiger weniger Geschichtenerzähler*innen entworfen und dann in der Welt verbreitet. Erzählungen sind Teil von Aushandlungen innerhalb und zwischen Bewegungen. Es geht darum, wie Probleme, deren Ursachen und Lösungen definiert, welche Aspekte ein- und ausgeblendet und welche Erzählstrategien verfolgt werden. Erzählungen von Bewegungen sind somit auch Teil von diskursiven Kämpfen. Je umfassender sie Hegemonie und den Status quo infrage stellen, desto stärker provozieren sie Gegenwind von Eliten – und möglicherweise auch von Gegenbewegungen. Diese versuchen mit ihren Gegenerzählungen Angriffspunkte und Schwachstellen in den Bewegungserzählungen auszunutzen, diese zu delegitimieren und ihr gegen-hegemoniales Potenzial zu neutralisieren. Soziale Bewegungen sollten auf die Gegenangriffe vorbereitet sein und Erzählstrategien parat haben, um Delegitimierungsversuche abzuwehren.

Wenn soziale Bewegungen Geschichten erzählen, dann heben sie immer bestimmte Aspekte hervor und blenden andere aus. Dabei laufen sie Gefahr, weniger stark in der Gesellschaft repräsentierte Perspektiven und Themen zu ignorieren. Mit einem machtkritischen Blick auf Erzählungen können wir fragen: Was wird ausgeblendet und unsichtbar gemacht? Wessen Perspektiven finden Einklang in unsere Erzählungen, wessen nicht? Wer kommt als Protagonist*in vor, wer nicht oder nur als Nebenfigur oder passives Opfer? (→ Baustein: INTERSEKTIONAL HANDELN)

Seite 84

Beispiel 1: David gegen Goliath in der Kohlegruppe

Ein Beispiel für eine gute Erzählung sind die ­Anti-Kohle-Kämpfe von Ende Gelände. Auf der einen Seite der Antagonist: ein riesiger Konzern, der Klimaverbrechen begeht, um astronomische Profite zu machen, und von Regierungen hofiert und von Polizei durch den Einsatz von Gewaltmitteln geschützt wird. Auf der anderen Seite die Protagonist*innen: Die Aktivist*innen in der Hauptrolle, die nur ihre Körper zur Verfügung haben, um sich der Klimazerstörung in den Weg zu stellen. Sie kämpfen für eine klimagerechte Welt, indem sie für das Gemeinwohl Gesetze überschreiten, Polizeiketten überwinden, in Tagebaue eindringen und gigantische Kohlebagger besetzen. Diese Erzählung von mutig und tapfer für das Gute kämpfenden Underdogs, die beschwerliche Wege auf sich nehmen und mehrere Herausforderungen meistern müssen, um letztendlich eine unbesiegbar scheinende Übermacht ins Wanken zu bringen, ist mitreißend und motivierte viele neue Aktivist*innen an den Aktionen von Ende Gelände teilzunehmen.

Beispiel 2: Freedom of Movement – gelebte Erzählung

Wenn Erzählung und Aktionsform miteinander in Verbindung stehen, erlangen Erzählungen eine größere Glaubwürdigkeit. Im Jahr 2012 organisierten Geflüchtete einen Protestmarsch zu Fuß von Würzburg nach Berlin, um gegen die Unterbringung in Geflüchtetenlagern, die Residenzpflicht und die Entrechtung von Asylsuchenden aufmerksam zu machen. Die Forderung nach Bewegungsfreiheit und gleichen Rechten wurde mit der großen Ausdauer und Hartnäckigkeit durch die Protestform eines mehrere hunderte Kilometer langen Protestmarschs, bei dem Aktivist*innen sich das Recht auf Bewegung nahmen, ­untermauert.

Übung: Der Kampf um die Erzählungen

Einleitung

Diese analytische Gruppenübung kann euch dabei behilflich sein, wirkungsvollere Erzählungen zu entwickeln. Die Übung geht davon aus, dass ihr schon eine gemeinsame Erzählung habt. Falls das nicht zutrifft, nehmt die Übung zum Anlass, um eure Erzählung zu entwickeln oder euch über diese bewusst zu werden.

Das Center for Story-Based Strategy identifiziert fünf ­Elemente, die eine gute Erzählung ausmachen – auf dieser Basis funktioniert die Übung. Die fünf ­Elemente sind:

  1. der Konflikt, um den sich die Erzählung dreht,
  2. die Charaktere und insbesondere die Protagonist*innen und Antagonist*innen,
  3. die Bildsprache, also Beschreibungen, Metaphern und Anekdoten,
  4. das Foreshadowing, das Hinweise auf den Ausgang der Geschichte gibt,
  5. die impliziten Grundannahmen, die der Erzählung zugrunde liegen.
Seite 85
  • Ca. 60 Minunten
  • Max. 5 Personen, bei größeren Gruppen in Kleingruppen aufteilen
  • Kopie der Tabelle
  • Papier und Stifte

Ablauf

1. Die Erzählung der Gegner*innen (15 Minuten)
In einem ersten Schritt analysiert ihr die Erzählungen eurer Gegner*innen. Einigt euch darauf, welche gegnerische Erzählung ihr durchsprechen wollt. Versucht dann, die fünf Elemente der gegnerischen Erzählung zu identifizieren. Füllt dafür die linke Spalte der untenstehenden Tabelle aus. Besprecht dann: Wo finden sich Schwachstellen und Widersprüche in der Erzählung?

  Erzählung eurer Gegner*innen Eure Erzählung
Konflikt
Wo besteht ein Konflikt?
Zwischen wem?
Um was geht es?
Was wird thematisiert?
Was wird ausgeblendet?
   
Charaktere
Wer sind die Erzähler*innen?
Wer sind die Protagonist*innen, wer die Antagonist*innen?
Wer ist Teil der Erzählungen und wer nicht?
Wer spricht für sich selbst und wer nicht?
   
Bildsprache
Welche Bilder, Metaphern und Anekdoten gibt es?
Wie werden bestimmte Werte und Überzeugungen angesprochen?
   
Foreshadowing
Wie wird angedeutet, was als Nächstes passieren wird?
Wie wird der Konflikt aufgelöst?
Welche Vision enthält die
Erzählung?
   
Grundannahmen
Welche ungenannten Grundannahmen gibt es?
Was muss das Publikum glauben, damit es die Erzählung als glaubwürdig wahrnimmt?
   
Seite 86

2. Eure Erzählung (20 Minuten)
Schaut dann auf eure eigene Erzählung! Versucht nun, die fünf Elemente dort zu identifizieren – füllt dafür die rechte Seite der Tabelle aus.

3. Auswertung (25 Minuten)
Jetzt geht’s an die Auswertung: Wo hakt es bei eurer Erzählung? An welchen Punkten ist es euch besonders schwer gefallen, die Tabelle auszufüllen? Bei welchen Elementen habt ihr euch gut und ermutigt gefühlt? Gibt es Elemente, bei denen ihr ungute Gefühle gespürt habt? Welche Elemente sind schwer zu transportieren, widersprüchlich oder für Außenstehende nicht so eingängig? An welchen Stellen greift eure Erzählung die Schwachstellen und Widersprüche der gegnerischen Erzählung auf? Hat die Erzählung eine transformative Perspektive (→ Baustein: REALPOLITIK REVOLUTIONÄR GESTALTEN)? Wie könnt ihr eure Erzählung gegebenenfalls so verändern, dass sie mehr Resonanz erzeugt?

Wenn ihr in Kleingruppen arbeitet, macht die Auswertung erst in der Kleingruppe und haltet eure Ergebnisse fest. Diskutiert im Anschluss die Ergebnisse in der Großgruppe.

Quelle der Übung

Diese Übung ist mit Anpassungen übernommen aus: Center for Story-Based Strategy: Story-based Strategy 101.

Zum Weiterstöbern

Seite 87