Solidarische Beziehungsweisen weben

Kein Mensch ist eine Insel. Immer und überall stehen wir in Beziehung zueinander. Wir stehen in Beziehung zu Menschen um uns herum: unseren Freund*innen, unserer Chefin, unserem Vermieter und unseren Nachbar*innen, und so weiter. Wenn wir Dinge kaufen, stehen wir über den globalen Weltmarkt auch in Beziehungen zu Menschen, die weit weg sind und die wir nie getroffen haben. Wie unsere Beziehungen funktionieren, hängt davon ab, wie Gesellschaft organisiert ist. In einer Gesellschaft, die auf Hierarchie, Ausgrenzung und Konkurrenz basiert, sind unsere Beziehungen häufig eher trennend als verbindend. Beispielsweise wird uns von Beginn an in Schulen Konkurrenz statt Kooperation beigebracht. Es gibt einen Wettbewerb um die besten Noten, es zählen Einzelleistungen und Abschreiben ist verboten. Der Vergleich mit anderen etabliert soziale Hierarchien, die über Über- und Unterlegenheitskategorien funktionieren (→ Baustein: INTERSEKTIONAL HANDELN). Das hat nicht nur Auswirkungen auf einzelne Beziehungen, sondern auch darauf, wie Gesellschaft gestaltet ist.

Queerfeminist*innen sagen, dass Beziehungen zentral sind, wenn es um den Aufbau von Gegen-Hegemonie geht. Doch stehen Beziehungen in linken Debatten selten im Fokus. Wenn Kapitalismuskritik geübt wird, wirkt es häufig so, als ginge es um abstrakte Verhältnisse und unpersönliche Strukturen, die nicht viel mit unserem eigenen Zusammenleben zu tun haben und die nur schwer veränderbar scheinen. Durch den Blick auf Beziehungen werde Kapitalismus und das, was schief läuft in der Welt, zwar nicht leichter verständlich, aber leichter veränderbar, so Bini Adamczak.25 Mit der Perspektive der Beziehungsweisen fällt es leichter, transformativ zu wirken. Es muss nicht erst der Staat gestürzt und der Kapitalismus abgeschafft werden, vielmehr geht es darum, neue solidarische Bande zu knüpfen und gegenseitig unterstützende Beziehungen aufzubauen. Transformation mit einem Fokus auf Beziehungen verschiebt die Perspektive auf die kollektive Praxis. Wir schauen darauf, wie Menschen sich zueinander in Beziehung setzen und Beziehungen gestalten (→ Baustein: RADIKALE KOLLEKTIVE HEILUNG). Transformation kann erst dann geschehen, wenn neben dem Widerstand gegen das Alte auch über neue Beziehungsweisen solidarische ­Zukünfte schon im Hier und Jetzt erfahrbar und erlebbar gemacht werden.

25 Bini Adamczak (2017): Beziehungsweise Revolution. Suhrkamp, S. 248.

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Wie können wir als Nachbar*innen Beziehungsweisen aufbauen, die von solidarischem Miteinander geprägt sind statt von trennenden Gartenzäunen? Welche Beziehungsweisen bauen Pflegende und Pflegebedürftige zueinander auf, die von gegenseitigem Lernen geprägt sind statt von Abhängigkeiten, die uns das Pflegesystem vorgibt? Welche Beziehungsweisen bauen wir in linken Kontexten zueinander auf, die von Fehlerfreundlichkeit und Empathie geprägt sind statt von in Job und Schule erlernter Konkurrenz und Wettbewerb? Und darüber hinaus: Wie können solidarische Beziehungsweisen auch auf verschiedenen Ebenen gefördert werden, die nicht unmittelbar und physisch erfahrbar sind und doch Teil unserer Lebensweise – wie zum Beispiel zu Arbeiter*innen in globalen Produktionszusammenhängen? Welche Institutionen und Infrastrukturen braucht es dafür?

Beispiele: Klimacamps, Festival of Resistence, Proll-Lesben

Ein Beispiel für das Experimentieren mit neuen Beziehungsweisen sind die Klimacamps, die in den letzten Jahren in den Kohlerevieren entstanden sind. Als konkrete Utopien bieten sie auch einen Lernraum, um neue Beziehungsweisen auszuprobieren. Auf Klimacamps wird der Anspruch verfolgt, unabhängig von (Gegen-)Leistung füreinander zu sorgen. Es gibt Küche und Care-Strukturen für alle. Diese Tätigkeiten werden sichtbar gemacht und es wird deutlich, dass sie politisches Engagement und Aktionen des zivilen Ungehorsams erst ermöglichen.

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Das Festival of Resilience wurde zum ersten Mal im Jahr 2019 von der jüdischen Initiative Base Berlin zur Erinnerung an den rechtsterroristischen Anschlag auf eine Synagoge in Halle organisiert. Bei diesem Festival geht es darum, allen Betroffenen rechten Terrors Gehör für ihre Perspektiven zu verschaffen. Das Festival schuf einen Ort, ­einen Reflexionsraum dafür, was es bedeutet, in einer Gesellschaft verletzlich zu sein. Es ist zudem als Aufbau widerständiger und solidarischer Beziehungsweisen zu verstehen. Durch das gemeinsame Feiern und die damit verbundenen Rituale und Workshops wird der Zusammenhalt zwischen unterschiedlichen Communities, die von rechtem Terror betroffen sind, gestärkt. Die aus dem Kontext des Festivals entstandenen Verbindungen zwischen Menschen und Communities wirken nicht nur stärkend nach innen. Mit dem Festival of Resilience wird auch eine Botschaft in die Öffentlichkeit getragen: „Wir verstehen alle, was es bedeutet, ständig bedroht zu sein, und welche Ängste damit verbunden sind. Daher wollen wir uns gegenseitig stärken. Wir werden nicht aufhören zu sein, wer wird sind und wollen dafür sorgen, dass alle so sein können, wie sie sind.“26

Auch die Proll-Lesbengruppen zeigen beispielhaft, wie andere, solidarische Beziehungs­weisen dadurch entstehen, dass Menschen mit ähnlichen ­Ungerechtigkeitserfahrungen sich zusammentun. Die selbstorganisierten Proll-Lesbengruppen gründeten sich Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre um anti-klassistisch in die damalige Frauen- und Lesbenbewegung der BRD zu intervenieren. In den Kleingruppen ging es auch um Erfahrungsaustausch über armutsbezogene und klassenspezifische Dis­kri­mi­nierungserfahrungen im lesbisch-feministischen Bewegungskontext (→ Bau­stein: INTERSEKTIONAL HANDELN). Die Gruppen unterzogen den lesbisch-feministischen Bewegungsalltag einer kritischen Analyse und erteilten bürgerlichen Normen eine Absage. Durch diesen Erfahrungsaustausch entstanden kollektive Prozesse der Organisierung, Politisierung und des Kümmerns. So richteten in der Bewegung Aktive beispielsweise ein Umverteilungskonto ein, auf das Lesben mit mehr Geld einzahlten und von dem Lesben mit weniger Geld anonym Geld abheben konnten. Dadurch begegneten die Gruppen den ungleichen strukturellen Voraussetzungen der politischen Organisierung.

Übung: Beziehungsweisen transformieren

Einleitung

Neue Beziehungsweisen aufzubauen, braucht Zeit. Deswegen handelt es sich hier nicht um eine klassische Übung. Wir regen euch an, in eurer Gruppe immer wieder über die unten steh­en­den Reflexionsfragen in einen Austausch zu kommen. Die Fragen können einen Prozess begleiten, bei dem ihr neue Beziehungsweisen ausprobiert, erlernt und reflektiert.

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  • Fortlaufender Prozess, für den sich die Gruppe idealerweise immer wieder aktiv Zeit nimmt
  • Sowohl alleine als auch in der Gruppe durchführbar
  • Stift und Papier für alle Beteiligten
  • Große Papierbögen, um gemeinsame Punkte oder Verabredungen festzuhalten (optional)

Die Auseinandersetzung und Reflexion mit alltäglichen Beziehungsweisen hat nicht zum Ziel, in erster Linie netter zueinander zu sein. Ein Ergebnis solcher Reflexionsprozesse kann auch bewusst gewählte Distanz sein und muss nicht zwangsläufig zu engen Beziehungen führen. Es geht darum, die Kontakte, die unseren Alltag oder unser Zusammensein prägen, wahrzunehmen. Dabei wollen wir erkennen, durch welche Merkmale diese Beziehungen geprägt sind, wo Ursachen dafür liegen und der Frage nachgehen, wie sie veränderbar sind sowie welche Rolle sie für strategische, transformative Gesellschaftsprozesse spielen.

Ablauf

Stellt euch nacheinander folgende Fragen und nehmt euch zunächst Ruhe und Zeit, euch Gedanken dazu zu machen. Tauscht euch dann über eure jeweiligen Gedanken in Kleingruppen oder in der Gesamtgruppe aus.

  • Durch welche Merkmale sind Beziehungen in eurer Gruppe geprägt (beispielsweise: Anerkennung, Wertschätzung, Wettbewerb, Hierarchien, (Un)geduld, Fürsorge, Körper­lichkeit, Distanz und so weiter)?
  • Welche Erfahrungen gibt es innerhalb eurer Gruppe mit bestärkenden/motivierenden/vertrauten/wertschätzenden Kontakten und Beziehungen? Wo finden diese statt? Wo und wodurch erlebt ihr diese Kontakte?
  • Könnt ihr euch an Momente in eurer Gruppe erinnern, wo ihr den Kontakt miteinander und die Beziehungen innerhalb der Gruppe als belastend/verletzend/unsolidarisch wahrgenommen habt? Wie war die Situation? Wie seid ihr und wie ist die Gruppe damit umgegangen?
  • Welche Rolle spielen eure sozialen Positionierungen und eure unterschiedlichen Erfahrungen von Privilegien und Diskriminierung, wenn ihr in der Gruppe in Kontakt mit anderen seid?
  • Wie könnte der Umgang miteinander in eurer Gruppe noch anders gestaltet werden? Wie könnte es aussehen, andere Beziehungsweisen auszuprobieren? Worauf wärt ihr neugierig?
  • Welche Elemente habt ihr in eurer Gruppe, um zwischenmenschlichen Beziehungen Zeit einzuräumen? Habt ihr Ideen? Was würdet ihr gerne ausprobieren? Wovor habt ihr Angst oder Sorgen?
  • Wenn ihr schon im Prozess seid: Wie fühlt es sich an, sich auf andere Art miteinander in Beziehung zu setzen, beispielsweise aktiver zuzuhören, neugierig zu sein, fehlerfreundlich zu sein, fragend und nicht wissend da zu sein, mehr zu staunen, sich zu verbinden, Lasten zu teilen? Was fühlt sich wie anders an? Wodurch merkt ihr das? Wie könnt ihr mit anderen darüber ins Gespräch kommen? Wieso ist manche Veränderung so schwierig?
  • Welche Beziehungsweisen habt ihr als Gruppe mit anderen Menschen und Gruppen? Wodurch sind diese geprägt? (Abgrenzung/Konkurrenz/Solidarität/Fürsorge/Bevormundung/Hierarchie/Vertrautheit/…)
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Verabredet einen lockeren Rhythmus, um euch Zeit einzuräumen für diese Fragen. Verabredet gerne auch Rituale und Mechanismen für eure Gruppe, mithilfe derer ihr euch Räume für andere Beziehungsweisen schaffen könnt. Erprobt diese in einem abgesprochenen Zeitraum und kommt darüber immer wieder ins Gespräch und nehmt euch bewusst Zeit für diesen Austausch. Was verändert sich in eurem Kontakt zueinander? Was daran möchtet ihr festigen, beibehalten oder wieder verwerfen? Ein einfaches Beispiel für solche Rituale ist es, gemeinsame Treffen mit Check-in-Runden zu beginnen, in denen alle Beteiligten erzählen können, wie sie gerade beim Treffen ankommen und da sind. Treffen können auch mit Check-out-Runden geschlossen werden, in denen Beteiligte sagen, wie sie nun wieder aus dem Treffen herausgehen und sich fühlen. Mit diesem einfachen Mittel könnt ihr einen gemeinsamen Ein- und Ausstieg finden. Ein anderes Beispiel ist es, Räume dafür einzuplanen, dass ihr euch darüber austauschen könnt, was euch die Teilnahme an Gruppentreffen erschwert (Sorge-Verpflichtungen, Geld für Anreise, Krankheiten, körperliche oder psychische Erschöpfung, …). Statt darüber zu meckern, dass mal wieder so wenig Menschen beim Plenum erschienen sind, könnt ihr so gemeinsame Lösungen finden, um Lasten zu teilen – und nehmt Menschen die Belastung, proaktiv um Hilfe bitten zu müssen.

Quelle der Übung

Die Übung haben wir neu erarbeitet.

Zum Weiterstöbern

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