Solidarische Gegenhegemonie aufbauen

Die imperiale Lebensweise sitzt fest im Sattel – sie ist hegemonial. Was bedeutet das genau? Auf welche Weise wird die Hegemonie der imperialen Lebensweise stabil gehalten? Welche Rolle spielt Gegen-Hegemonie für Transformation? Und wie können wir emanzipatorische Gegen-Hegemonie von unten aufbauen?

Hegemonie – wieso die zerstörerische Normalität der imperialen Lebensweise normal erscheint

Warum stützen viele Menschen eine imperiale und ausbeuterische Lebensweise, zu der sie nicht gezwungen werden? Der Begriff der Hegemonie hilft, diese Frage zu beantworten. Wir verwenden den Begriff in Anlehnung an den italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Hegemonie bedeutet, dass herrschende Gruppen, Klassen oder Institutionen in der Lage sind, eigene Interessen als allgemeine, gesellschaftliche Interessen darzustellen und durchzusetzen. Hegemonie meint auch, dass herrschenden Gruppen ihre Vorstellung der Welt, von dem was gut und schlecht ist, als allgemeingültig und alternativlos durchsetzen können. Eine breite Gesellschaft akzeptiert diese Deutung der Welt als Normalität – auch wenn diese Normalität einem solidarischen Zusammenleben entgegensteht oder die Bedürfnisse vieler Menschen nicht befriedigen kann. Die Hegemonie dieser Vorstellungen beruht nicht nur auf Zwang und Gewalt. Sie fußt auch zentral darauf, dass Teile der Gesellschaft diesen Vorstellungen aktiv zustimmen oder sie passiv hinnehmen.

Wir erklären es an einem Beispiel: Die kaum hinterfragte Zielvorstellung einer Vollzeit-Lohnarbeit ist ein gutes Beispiel dafür, wie es herrschende Gruppen geschafft haben, ihre Interessen als die der Allgemeinheit zu verkaufen. Für herrschende Gruppen im Kapitalismus der frühindustrialisierten Länder war es wichtig, dass Menschen einen Großteil ihrer Lebenszeit damit verbrachten, für (möglichst geringen) Lohn anderen ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Die Ausbeutung von Arbeitskraft war damit ein zentrales Konfliktfeld. Denn Arbeiter*innen waren gezwungen, für die Klasse der Besitzenden zu arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts, als in den industrialisierten Ländern die Massenproduktion und auch der Massenkonsum einsetzten, erhielten immer mehr Arbeiter*innen Zugang zu einer Vielfalt an Waren. Dadurch änderte sich der Blick auf Lohnarbeit: Zwar wurden Arbeiter*innen weiter ausgebeutet, doch erschien es vielen nun erstrebenswert zu arbeiten. Denn Lohnarbeit begriffen viele nicht mehr nur als notwendiges Übel, sondern als Eintrittskarte zu dem, was ihnen durch Massenmedien als Gutes Leben verkauft wurde und was vorher nur der kapitalistischen Klasse zugänglich war: Autos, Fernseher, Staubsauger. Verstärkt wurde diese Zustimmung durch Zwangsmechanismen: Eine Vollzeitarbeit ist bis heute für viele Menschen in Niedriglohnberufen nötig, um Miete und Lebenshaltungskosten zu zahlen. Vollzeitarbeit ist zudem der Maßstab aller sozialen Unterstützungsleistung. Wer dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht, hat kaum Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe. Wie stark sich die Vorstellung von Vollzeitarbeit als Normalität durchgesetzt hat – also hegemonial geworden ist – zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Erwerbslose gesellschaftlich geächtet werden und viele

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Menschen eine Vollzeit-Lohnarbeit als persönliche Errungenschaft ansehen.

Die imperiale Lebensweise ist das Ergebnis von jahrzehntelanger Hegemoniebildung, die globale Ausbeutung und ein Leben auf Kosten anderer normalisiert hat. Hegemonie wird auf unterschiedliche Arten hergestellt und abgesichert. Erstens geschieht dies auf der Ebene der Vorstellungen darüber, was Menschen als erstrebenswert empfinden. Die Hegemonie einer bestimmten Vorstellungswelt – also zum Beispiel davon, was das Gute Leben ausmacht – wird abgesichert durch Erzählungen, Vorstellungen und Bilder in Zeitungen, sozialen Medien oder in Kunst und Kultur. Von Klein an lernen Menschen die Normen der imperialen Lebensweise in der Schule oder in Kinderbüchern: Dazu gehört zum Beispiel, dass Menschen in Konkurrenz zueinander stehen; dass es erstrebenswert ist, viele Dinge zu besitzen; dass Mädchen Krankenschwestern werden wollen und Jungen Polizisten. Auf diese Weise wird das geformt, was Gramsci den Alltagsverstand – oder Common Sense – nennt. Im Alltagsverstand ist Hegemonie ganz zentral verankert.

Zweitens wird die Hegemonie der imperialen Lebensweise durch physische Infrastrukturen abgesichert. Wenn beispielsweise Autobahnen gut ausgebaut sind, aber Fahrradwege oder Bahnverbindungen nicht, festigt das die Attraktivität und Normalität des fossilen Verkehrs. Als dritter Stabilisierungsmechanismus wirken politische und wirtschaftliche Institutionen. Institutionen wie Zentralbanken, Freihandelsabkommen oder transnationale Unternehmen sichern die Lebensweise ab: über Gesetze, Medien und Gewalt. Auch im alltäglichen Ablauf in Ämtern, Unternehmen, Schulen und anderen Institutionen wird Hegemonie weiter gefestigt.

Das Konzept der imperialen Lebensweise zeigt, dass globale Ungleichheiten nichts Abstraktes sind, stattdessen benennt es Ursachen und Zusammenhänge konkret. Es zeigt auf, dass globale Ungleichheit nicht einfach eine Frage von Lebensstil und individuellen (Konsum)-Entscheidungen ist. Vielmehr hilft das Konzept dabei, zu verstehen, wie übergreifende Strukturen, also Infrastrukturen und Institutionen, mit Alltagsvorstellungen und -handeln zusammenhängen. Einerseits verhindern strukturelle Faktoren, dass sich ein ausbeuterischer Alltag überwinden lässt. Die Strukturen stabilisieren die Hegemonie der imperialen Lebensweise. Dass Menschen alltäglich an der imperialen Lebensweise teilhaben, nach ihren Zielen streben und dabei mithelfen, sie aufrecht zu erhalten, verfestigt andererseits die Hegemonie ausbeuterischer Strukturen. Dieses Verständnis kann uns helfen, herauszufinden, wo wir ansetzen können, um die Hegemonie ins Wanken zu bringen.

Gegen-Hegemonie aufbauen: für eine solidarische Normalität

Damit Transformation gelingt, muss die Hegemonie der imperialen Lebensweise sichtbar gemacht, problematisiert und zurückgedrängt werden. Soziale Bewegungen als Transformationsakteur*innen machen genau das: Sie zeigen auf, wie der Alltagsverstand und materielle Infrastrukturen sowie politische und wirtschaftliche Institutionen die Hegemonie stützen und sie stellen sie infrage, greifen sie an und können sie manchmal sogar überwinden. Soziale Bewegungen setzen sich auch dafür ein, die Hegemonie der imperialen Lebensweise mit solidarischen Lebensweisen zu überwinden. Der systematische Aufbau von emanzipatorischer und solidarischer Gegen-Hegemonie spielt eine zentrale Rolle in unserer Theorie des Wandels.

Wie kann der Aufbau einer solidarischen Gegen-Hegemonie gelingen? Zur besseren Übersicht fassen wir drei zentrale Aspekte zusammen, die wir beim Aufbau von Gegen-Hegemonie auf dem Weg zu Transformation für wichtig halten:

  • Politische Subjekte und kollektive Erfahrungen entstehen: Menschen zum Handeln zu befähigen, ist eine wichtige Komponente von emanzipatorischer Gegen-Hegemonie. Das bedeutet, uns unserer eigenen politischen Handlungsfähigkeit bewusst zu werden und diese Handlungsfähigkeit mit und in anderen zu wecken. Impulse für Veränderung gehen in der Regel von progressiven Akteur*innen aus – von sozialen Bewegungen, emanzipatorischen Kollektiven oder Gewerkschaften. Doch diese müssen über sich hinaus wirken, um Gegen-Hegemonie aufbauen zu können. Gesellschaftlicher
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  • Wandel kann nicht für die Gesellschaft erfolgen, sondern nur in ihr. Dadurch entstehen gegen-hegemoniale Projekte von unten. Wie gewinnen wir viele Menschen dafür, Teil von transformativen Kämpfen zu werden und sie zu gestalten? Hierbei spielt die Anknüpfung an den alltäglichen Erfahrungen, Vorstellungswelten und Herausforderungen – am Alltagsverstand der Menschen – eine wichtige Rolle (→ Baustein: ORGANIZING - TRANSFORMATION AUS DEM ALLTAG HERAUS). Es braucht nicht nur Individuen, die sich ihrer politischen Handlungsfähigkeit bewusst werden, sondern auch kollektive, politische Momente und Erfahrungen und verbindende Projekte, bei denen die Interessen vieler Gehör finden und sich bündeln können (→ Baustein: KÄMPFE VERBINDEN und ZU VERBÜNDETEN UND KOMPLIZ*INNEN WERDEN).
  • Kritik des Bestehenden und neue Vorstellungen: Gegen-Hegemonie bedeutet auch, die bestehenden Vorstellungen und Normen der imperialen Lebensweise wirkungsvoll in Frage zu stellen und ins Wanken zu bringen. Und stattdessen andere, mitreißende und überzeugende Ideen in die Welt zu bringen. Dafür ist es wichtig, Menschen außerhalb linker Blasen zu gewinnen und mit solidarischen Erzählungen an ihren Vor­stellungswelten und an ihren Alltagserfahrungen anzuknüpfen. Wie es gelingt, Zustimmung zu einer neuen Erzählung eines wünschenswerten Zusammenlebens zu schaffen, haben wir zusammengetragen im → Baustein: GESCHICHTEN DES WANDELS ERZÄHLEN.
  • Das Neue muss praktisch werden: Neue Vorstellungen alleine schaffen noch keine Veränderung. Denn Hegemonie wird durch das alltägliche Leben, in Unternehmen, in staatlichen Institutionen, an Grenzzäunen, in Kitas gefestigt. Was nützt das Reden vom Guten Leben, wenn niemand erfahren kann, dass es machbar ist oder wenn es für Menschen keine erfahrbaren, positiven Veränderungen mit sich bringt? Erst wenn gegen-hegemoniale Vorstellungen von einer solidarischen Gesellschaft auch in der Praxis erfahr- und erlebbar werden, können sie tatsächlich zu transformativem Wandel beitragen, Menschen für sich gewinnen und reale Auswirkungen entfalten. An welchen Stellen und wie solche erfahrbaren Räume einer solidarischen Lebensweise entstehen, steht hier: → Baustein: SOLIDARISCHE BEZIEHUNGSWEISEN WEBEN.

Diese drei Aspekte des Aufbaus von Gegen-Hegemonie greifen ineinander, lassen sich nur schwer voneinander getrennt denken und bedingen sich gegenseitig. Es ist hilfreich, sie aufzudröseln, um sich strategisch dem Aufbau von Gegen-Hegemonie aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern. Es gibt vielfältige Wege, die imperiale Lebensweise infrage zu stellen, zurückzudrängen und zu überwinden. Es geht nicht nur um die institutionalisierte Politik, es geht nicht nur um Wahlen oder Massenstreiks, es geht aber auch nicht nur um den Gemeinschaftsgarten, den kollektiven Betrieb oder militante Blockaden. Es braucht für den Aufbau von Gegen-Hegemonie viele Akteur*innen mit verschiedenen Zielen, Mitteln und Ansatzpunkten. Strategien sind notwendig, um zielgerichtet Gegen-Hegemonie aufzubauen und die einzelnen Akteur*innen und ihre Ziele im besten Fall zu neuen, wirkungsvollen Allianzen zu verbinden (→ Baustein: KEINE MUSS ALLEINE).

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