Keine muss alleine

Sollten wir autonome Gesundheitszentren aufbauen, in Ausschüssen für bessere Pflege­politik lobbyieren oder das Gesundheitsministerium besetzen? Egal ob im Gesundheitsbereich oder in anderen Transformationsfeldern, soziale Bewegungen streiten oft über den besten Weg, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Doch um erfolgreich ­Gegen-­Hege­mo­nie aufzubauen, braucht es nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Keine Gruppe und erst recht keine Einzelperson muss dabei alle Wege der Transformation auf einmal ­bewältigen.

Vieles spricht für eine Art strategischen Pluralismus: Solange sie auf ein ähnliches Ziel hinsteuern, können sich die Akteur*innen mit verschiedenen Strategien gegenseitig unterstützen und die Arbeit der anderen kritisch-solidarisch begleiten. Hierfür ist es nützlich, sich einen guten Überblick darüber zu verschaffen, wer und wie auf ähnliche Ziele hinwirkt. Das ist ein erster Schritt für eine kluge Aufgabenverteilung und solidarische Bündnisse. Dies wollen wir in diesem Baustein mit der unten stehenden Matrix handhabbar machen. In der Matrix kombinieren wir Strategien und Hebelpunkte der Transformation. Dadurch wird sichtbar, wie viele Akteur*innen an Umwälzungen und Kämpfen für gesellschaftlichen Wandel beteiligt sind. Das verdeutlicht die unterschiedlichen Wege zu einem gemeinsamen Ziel und dass wirklich keine Person und keine Politgruppe alles alleine machen kann und muss.

Für einen solchen Überblick kann es sinnvoll sein, die Ansatzpunkte sozialer Bewegungen zu systematisieren. Zu möglichen Systematisierungen haben viele Menschen unterschiedliche Meinungen. Im Kapitel → WIE KOMMT DER WANDEL IN DIE WELT? diskutieren wir die Einteilung des Transformationsforschers Erik Olin Wright nach Logiken: Transformation durch Brüche, durch Nischen und durch Institutionen. Eine hiervon inspirierte Perspektive auf Strategien, die Überlegungen zur imperialen Lebensweise miteinbezieht, beschreiben wir in unserem Buch „Das Gute Leben für Alle“. Die Strategien zielen dabei immer auf das Schaffen und die Absicherung solidarischer Gegen-Hegemonie (→ Kapitel: SOLIDARISCHE GEGENHEGEMONIE AUFBAUEN).

  • Erstens geht es um Abwehrkämpfe und das Zurückdrängen der imperialen Lebensweise: Es wird verhindert, dass sich die imperiale Lebensweise weiter ausbreitet und intensiviert – zum Beispiel durch Proteste gegen die Ausweitung des Kohletagebaus oder für die Abschaffung rassistischer Polizeikontrollen.
  • Zweitens besteht eine wichtige Strategie im Ausweiten solidarischer Lebensweisen: Neue Beziehungsweisen und solidarische Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens entstehen durch Experimente. Diese vielfältigen solidarischen Ideen, Praktiken, Räume und Bündnisse gewinnen an Sichtbarkeit und Einfluss, werden weiterentwickelt und in alle Lebensbereichen ausgeweitet – zum Beispiel durch Netzwerke solidarischer Landwirtschafts- oder Wohninitiativen.
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  • Drittens ist es notwendig, solidarische Lebensweise gegen ihre Rücknahme abzu­sichern. Dies geschieht beispielsweise durch neue Infrastrukturen, Gesetze oder Institutionen, die wiederum Pfadabhängigkeiten schaffen. Solidarische Alternativen – wie der Ausbau von Kitas oder die Etablierung sicherer Radwege – werden dadurch alltäglich erfahrbar und vertraut.

Bei Transformationen, wie wir sie hier im Buch verstehen, geht es um umfassende und ­radikale Veränderungen unserer Lebensweise (und nicht unseres Lebensstils). Wir zielen also auf die Strukturen ab. Es ist daher sinnvoll, uns die Festigungsmechanismen zu vergegenwärtigen, über die die imperiale Lebensweise als konkreter Ausdruck kapitalist­ischer Verhältnisse stabil wird. Diese sind gleichzeitig auch die Hebelpunkte für solidarische Gegen-Hegemonie. Wie wir im Kapitel → SOLIDARISCHE GEGENHEGEMONIE AUFBAUEN ausgeführt ­haben, können wir hier drei Ebenen unterscheiden:

  • Alltagspraktiken
  • Physische Infrastrukturen
  • Politische und wirtschaftliche Institutionen

Die Strategie-Matrix ermöglicht einen Überblick über Akteur*innen und deren Aktionen in einem politischen Handlungsfeld. Sie umfasst zwei Dimensionen: Die gewählten Strategien (in den Spalten) einerseits und Hebelpunkte, an denen deren Veränderung ansetzt, andererseits (in den Zeilen). Transformation ist ein chaotischer Prozess, ein starres Raster kann nicht die ganze Komplexität des Unterfangens erfassen. Das ist auch nicht der Anspruch dieser Matrix. Doch wir haben die Erfahrung gemacht, dass es für Gruppen in ­sozialen Bewegungen hilfreich sein kann, die Matrix zu nutzen, um die Bandbreite an strategischen Ansätzen und Bündnispartner*innen zu überblicken, Lücken zu identifizieren und den eigenen strategischen Ansatz zu schärfen.

  Imperiale Lebensweise abwehren und zurückdrängen Solidarische Lebensweise ausweiten Solidarische Lebensweise absichern
Alltagspraktiken,
Wissen, Wünsche
     
Materielle
Infrastrukturen
     
Politische und
wirtschaftliche
Institutionen
     
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Beispiel: Auf vielen Wegen in die fahrradfreundliche Stadt

Während des Lockdowns in der Corona-Pandemie gab es im Jahr 2020 sichtbare Brüche im Mobilitätsverhalten. Die autoleeren Straßen sind wohl vielen noch in lebendiger Erinnerung. In zahlreichen Städten wurden relativ schnell Pop-Up-Radstraßen eingeführt, um sichere und gesunde Fortbewegung für alle zu ermöglichen. Straßen, die vorher dem Autoverkehr vorbehalten waren, wurden von Anwohner*innen kurzerhand als Rad- und Gehweg, Begegnungszone oder Leinwand für Kreide-Kunstwerke umgenutzt. Mancherorts malten Aktivist*innen die Radwege selbst auf die Straße und verdrängten damit den Autoverkehr. Gleichzeitig verstetigte sich der umfassende Ausbau der Radwegenetze. Fußgänger*innenzonen und Fahrradstraßen wurden als Modellprojekte vielerorts etabliert. Erfolgreiche Radentscheide in 52 deutschen Städten sorgten dafür, dass diese auf lange Zeiträume ausgeweitet werden können (Stand: Juni 2022). So wurden auf städtischer Ebene materielle Infrastrukturen, die eine klimaneutrale Fortbewegung ermöglichen, abgesichert. Dadurch konnte sich nicht nur das individuelle Alltagsverhalten verändern, sondern dadurch wurden neue Mobilitätsformen auch leichter vorstellbar und attraktiver. An diesen Beispielen wird das Zusammenspiel verschiedener Transformations-Akteur*innen sichtbar, die unterschiedliche Strategien gewinnbringend miteinander verflochten haben — von progressiven Kräften in der Verwaltung bis zu gut vernetzten politischen Initiativen.

  • BundesRad, Bündnis lokaler Radentscheide und anderer Verkehrswende-Initiativen

Übung: Strategie-Matrix

Einleitung

Die folgende analytische Gruppenübung mit der Strategie-Matrix erlaubt es euch, eine Systematisierung von Akteur*innen und Verbündete in einem Handlungsfeld zu erarbeiten. Das Mapping, das in der Strategie-Matrix-Übung entsteht, steht unter dem Motto: „Keine*r muss alles alleine machen“. Anhand der Übung wird deutlich, dass verschiedene Akteur*innen ähnliche Ziele mit ganz unterschiedlichen Strategien verfolgen – und dass das gut ist. Vor allem soll die Methode von dem belastenden Gefühl befreien, alles selbst machen zu müssen. Die Übung soll deutlich machen, wie sich unterschiedliche Strategien sinnvoll ergänzen oder sogar verflechten lassen. Es werden in der Gesamtschau nicht nur Konstellationen und potentielle Bündnisse sichtbar: Ihr könnt auch feststellen, wo bislang Leerstellen sind, die genauere Betrachtung verdienen. Die Methode eignet sich auch für Netzwerk- und Bündnistreffen.

Ablauf

1. Das Feld eingrenzen (10 Minuten)
Legt fest, über welches Thema ihr sprechen wollt. Schreibt dazu euer politisches Ziel so konkret wie möglich auf: So ist beispielsweise „Mobilitätswende“ zu unspezifisch, viel klarer ist das Ziel „Umbau des Stadtverkehrs in Richtung ÖPNV und Radverkehr“. Außerdem solltet ihr euch auf einen Aktionsraum festlegen, zum Beispiel die Stadt Dresden. Seid auch hier so konkret wie möglich. Es ist sinnvoll, ein Feld zu wählen, das ihr kennt und in dem ihr strategisch vorankommen wollt.

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  • Ca. 90 Minuten
  • Max. 10 Personen, bei größeren Gruppen in Kleingruppen aufteilen
  • Große Papierbögen
  • Moderationskarten
  • Stifte
  • Kreide oder Klebeband

2. Akteur*innen sammeln (20 Minuten)
Sammelt alle Akteur*innen, die momentan zu dem politischen Ziel in eurem ausgewählten Raum aktiv sind. Schreibt den Name auf eine Moderationskarte und dazu in Stichworten, was sie tun, zum Beispiel „Orgagruppe Radentscheid: Stimmensammlung für Bürgerbegehren für bessere Radwege“ oder „Umweltjugendgruppe: Kreideaktion für Fahrradstraßen“.

3. Mapping der Akteur*innen (20 Minuten)
Wendet euch nun der Matrix zu: Malt sie beispielsweise mit Kreide auf den Boden oder erschafft sie aus Klebeband an der Wand. Versucht reihum die Karten in der Matrix zu platzieren. Das geht auch flexibel zwischen den Achsen. Sind Strategien nicht nur auf einer Ebene wirksam, sondern reichen in verschiedene Ebenen hinein, dann platziert sie in mehreren oder zwischen Feldern. Kommentiert und diskutiert jeweils kurz die Position. Denkt dabei daran: Die Position muss nicht endgültig sein und kann sich während des Legens auch noch verändern. Wenn ihr bei der Positionierung einer Akteur*in unentschieden seid, könnt ihr auch nach Aktionsform der Gruppe unterscheiden, zum Beispiel entsteht dann neben der obigen Karte auch noch die Karte „Orgagruppe Radentscheid: Lobbyarbeit bei Fraktionen im Stadtrat“. ­Wichtig: Verliert euch nicht zu lange in Diskussionen über einzelne Karten!

4. Wo stehen wir? (15 Minuten)
Wenn ihr alle Karten platziert habt, schaut euch die Gesamtmatrix an: An welcher Stelle positioniert ihr euch selbst? Wo bestehen enge Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen der eigenen und den genannten Gruppen? Wo gibt es vielleicht auch Rivalität und Konflikt? Markiert diese Beziehungen und Verbindungen gern mit Kreidelinien.

5. Auswertung (25 Minuten)
Jetzt geht es an die Auswertung: Wo seht ihr Leerstellen? Wo könnt ihr neue Bündnisse herstellen oder bestehende Bündnisse stärken (→ Baustein: KÄMPFE VERBINDEN)? Hat sich durch das Mapping euer Blick auf bestimmte andere Akteur*innen und ihre Aktionsformen verändert? Diskutiert gemeinsam, an welchen Stellen die Pluralität an Ebenen, Strategien und Aktionsformen Sinn macht und an welchen Stellen ihr sie nicht für zielführend oder kontraproduktiv haltet. Wie möchtet ihr mit den Erkenntnissen aus dem Matrix-Mapping für eure Strategieplanung weitermachen? Haltet Ergebnisse fest und überlegt, was darauf aufbauend nächste Schritte sein könnten.

Quelle der Übung

Die Übung entstand im Rahmen der Bildungsarbeit des I.L.A. Kollektivs.

Zum Weiterstöbern

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