Auf welcher Ebene ansetzen

Die Ebene, auf der wir Probleme erkennen, schreibt nicht allein die Ebene für transformatives Handeln vor. Das klingt erst ein­mal komplex, ist im Handeln von sozialen Bewegungen aber längst gängige Praxis: So wissen Kimagerechtigkeitsaktivist*innen, dass der ­globale Kapitalismus die Erderhitzung hervorruft – und doch sind es nicht allein die globalen Klimaverhandlungen, auf die Druck ausgeübt wird. Auch von Bundesministerien, Lan­d­­esregierungen und Kom­munen fordern Aktivist*innen eine ambitionierte Klimapolitik. Kli­ma­gerechtigkeit wird also mindestens auch auf der nationalen, regionalen und lokalen Ebene erkämpft.

Noch immer konzentrieren sich Transformationsdebatten häufig auf die nationalstaatliche Ebene. Politische Entscheidungen werden jedoch nicht allein auf der Ebene des Nationalstaats getroffen, son­­dern auch auf Ebene von Staatenverbünden wie der EU oder auf internationaler Ebene. Und auch Bundesländer, Gemeindeverbände und Kommunen sind Schauplätze des Ringens um Transformation. Herrschende politische Kräf­te versuchen, radikale Trans­formationen auf verschiedenen Ebenen zu verhindern. Soziale Bewegungen sollten daher multi-skalare Strategien entwickeln (und tun dies auch schon). Dies bedeutet, mehrere Ebenen als Terrain zu nutzen, um Handlungs-

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macht auszuweiten und Transformation vor­anzutreiben. Denn das bewusste Bespielen verschiedener Ebenen kann helfen, die eigene Widerstandsfähigkeit zu stärken, Spielräume auszuweiten oder neue Zielgruppen zu erreichen.

Vor allem dann, wenn Strategien auf einer Ebene festgefahren sind und ein Vorankommen wenig aussichtsreich scheint, ist es eine gute Möglichkeit, die Ebene für das Handeln zu wechseln. Durch überraschende Politikvorstöße auf völlig anderen Ebenen kann es möglich werden, den eigenen Spielraum zu erweitern und Blockaden zu umgehen. Als Ergebnis kann dann im besten Fall die scheinbar unumstößliche Hierarchie zwischen der mächtigen nationalen Ebene auf der einen Seite und globalen wie auch lokalen Vernetzungen auf der anderen Seite herausgefordert und auf den Kopf gestellt werden.

Beispiel: Der Kampf um Städte für wirklich alle auf verschiedenen Ebenen

Die Seebrücke-Initiativen in vielen deutschen Städten springen strategisch zwischen verschiedenen Ebenen. Dublin, Frontex, Moria: Die menschenrechtskonforme und sichere Aufnahme von Menschen auf der Flucht haben die EU und nationale Regierungen in den letzten Jahren nicht nur ignoriert, sondern rundum blockiert. Ein weiteres Abarbeiten an der Festung Europa auf genau diesen Terrains wurde kräftezehrend und wenig erfolgversprechend. Ab 2018 wechselten die Initiativen daher ihre Strategie. Die kommunale Maßstabsebene rückte unter dem Slogan „Schafft sichere Häfen“ in den Fokus der Bewegung. 309 Städte und Gemeinden haben sich seitdem per Stadtratsbeschluss zu einem sicheren Hafen bekannt (Stand: Juni 2022). Sie bieten damit aus Seenot geret­teten Menschen Schutz und Aufnahme und unterstützen die Seenotrettung aktiv. Die Kampagne der Seebrücke ist ein bewusst vollzogener Maßstabssprung, der den Druck auf andere Ebenen erhöht und migrationspolitische Spielräume erweitert.

Einen Sprung in die andere Richtung – nach „oben“ – vollzogen die Recht-auf-Stadt-Bewegungen. Kämpfe auf lokaler Ebene ­gegen Verdrängung und Zwangsräumungen und für eine Stadt für alle waren lange zentrale Aktionsfelder von Recht-auf-Stadt-Initiativen. In vielen Städten weltweit entstanden solche Initiativen, kamen aber schnell an ihre Grenzen. Denn viele der beobachteten Probleme äußerten sich zwar auf kommunaler Ebene, die Ursachen fanden sich aber auf Landes-, Bundes- und internationaler Ebene. Die Antwort bestand darin, in den Folge­jahren ab circa 2015 stärker politisch auf anderen Ebenen aktiv zu werden, ohne die lokale aktivis­tische Verwurzelung zu verlieren. Das bundesweite Forum Recht auf Stadt, Zeitschriften wie Común – Magazin für stadtpolitische Intervention oder bundesweite Kampagnen wie ­Mietenstopp oder Housing Action Day gehören zu diesen Ansätzen. Ein europaweites Bündnis formierte sich in der European Action Coalition for the Right to Housing and the City.

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Übung: Den Ebenensprung wagen

Einleitung

Die folgende analytische Gruppenübung soll euch dabei ­helfen, verschiedene Ebenen für eure politische Arbeit zu identifizieren und zu überlegen, an welcher Stelle ein Ebenensprung (englisch: Scale-Jumping) für euch sinnvoll sein könnte.

Diese Methode lässt sich gut mit den Methoden Pillars of Power und Points of Intervention (→ Baustein: KÄMPFEN STATT APPELLIEREN) kombinieren, da es um ähnliche Fragen geht, jedoch bei der folgenden Übung die Perspektive der Ebene zentral in den Blick kommt.

  • Ca. 120 Minuten
  • Max. 8 Personen
  • Bei größeren Gruppen in Kleingruppen aufteilen
  • Stifte
  • Moderationskarten (wenn möglich in unterschiedlichen Farben)
  • Klebeband

Ablauf

1. Ausgangspunkt (5 Minuten)
Bildet einen großen Kreis mit Platz in der Mitte. Benennt euer politisches Anliegen oder Thema möglichst genau und schreibt es knapp auf eine Moderationskarte (beispielsweise „barrierefrei Bahnfahren in Sachsen-Anhalt“). Klebt diese Karte in der Mitte auf den Boden.

2. Wildes Sammeln (25 Minuten)
Sammelt die Akteur*innen und Institutionen (Entscheidungsträger*innen, Gesetze, Medien, Organisationen und so weiter), die auf euer politisches Anliegen Einfluss haben oder haben könnten. Sammelt erstmal wild und diskutiert nicht die einzelnen Punkte. Schreibt jede einzelne Idee auf eine Moderationskarte.
Beim Beispiel „barrierefrei Bahnfahren“ könnten das Karten sein wie „Deutsche Bahn“, „Bauplanung Bahnhofsvorplatz unserer Stadt“, „UN-Behindertenrechtskonvention“, „§265a des Strafgesetzbuchs: Freiheitsstrafen für ticketlos im ÖPNV“, „Zeitschrift der Bahn“ und „Bahnfahrende vor Ort“.

3. Ebenen identifizieren (30 Minuten)
Klebt jetzt mit Klebeband eine horizontale Linie auf den Boden. Diese Linie stellt das Spek­trum an Ebenen dar. Die horizontale Linie soll euch helfen, die Ebenen nicht als hierarchisch zu betrachten. Das eine Ende der Achse markiert ihr nun mithilfe von Moderationskarten mit „lokal“ und das andere Ende mit „international“. Wenn ihr wollt, könnt ihr dazwischen weitere Ebenen markieren, wie „kommunal“, „regional“ und „national“.

Platziert nun die Moderationskarten aus eurer wilden Sammlung auf dem Ebenenstrahl an der Stelle, wo ihr die Akteur*in oder Institution verortet. Auch wenn es bei manchen Karten knifflig ist: Haltet euch nicht zu lange damit auf.

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Macht eine kleine Zwischen-Evaluation: Zu welcher Ebene habt ihr besonders viele Karten gesammelt? Fallen euch für die Ebenen, die bisher wenig gefüllt sind, noch Akteur*innen und Institutionen ein? Markiert, beispielsweise mit einem farbigen Stift, die Karten, auf die ihr zurzeit schon versucht, Einfluss zu nehmen. Gibt es Auffälligkeiten, was die Ebenen ­betrifft?

Eine kleine Pause tut nun sicher gut! (15 Minuten)

4. Erfolgschancen einschätzen (25 Minuten)
Ergänzt in einem nächsten Schritt die Ebenen-Linie mit einer weiteren Klebeband-Linie, die senkrecht durch die Mitte läuft. Es entsteht ein Kreuzdiagramm. Diese Linie soll darstellen, wie erfolgversprechend ihr eine Intervention einschätzt. Markiert daher die Enden der senkrechten Linie mit „erfolgversprechend“ und „nicht erfolgversprechend“.
Überlegt nun gemeinsam, wie eure Möglichkeiten sind, auf die von euch gesammelten Akteur*innen und Institutionen einzuwirken, und wie bedeutsam und erfolgversprechend eine Intervention auf dieser Ebene für euer politisches Ziel allgemein wäre. Verschiebt die Karten auf der senkrechten Achse entsprechend dieser Einschätzung.

5. Ernte (20 Minuten)
Überlegt zum Schluss: Welche Ansatzpunkte (Akteur*in/Institution + Ebene) scheinen aufgrund des Mappings für euch und eure Möglichkeiten erfolgversprechend? Markiert die entsprechenden Moderationskarten mit einem Kasten. Zum Abschluss könnt ihr folgende Fragen besprechen: Sind neue Ebenen in den Blick gekommen, die ihr bislang noch nicht bedacht habt? Wie stehen sie mit den Ansatzpunkten und Ebenen in Verbindung, auf die ihr euch bislang konzentriert habt? Was könnt und wollt ihr aus dieser Analyse für eure weitere Arbeit mitnehmen?

Im Prozess der Strategiearbeit lohnt es sich, diese Übung immer wieder in regelmäßigen Abständen durchzuführen. Was verändert sich? Kommen Akteur*innen auf bestimmten Ebenen dazu, als Ansatzpunkte für die eigene Strategie oder auch als mögliche Verbündete (→ Baustein: KEINE MUSS ALLEINE)?

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Quelle der Übung

Die Methode haben wir neu erarbeitet. Sie ist lose angelehnt an die Methode Power Mapping.

Zum Weiterstöbern

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