Transformation durch Eskalation?

Die Bandbreite politischer Aktionsformen ist groß. Zwischen Online-Petition und friedlicher Sabotage liegen viele Eskalationsstufen. Wieso und wann entscheiden sich Bewegungen dafür, Konflikte zu eskalieren? Welche Rolle spielen Gewalt und Gewaltvorwürfe dabei? Auf den nächsten Seiten geht es um Risiken von Eskalation – und ihrer möglichen Notwendigkeit.  

Auch wenn soziale Bewegungen erfolgreich darin sind, große Teile der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, bleiben Systeme oftmals stabil. Ein Beispiel: Am 20.09.2019 gingen beim Klimastreik in Deutschland 1,4 Millionen Menschen für Klimaschutz auf die Straße. Kurz darauf verabschiedete die Regierung ein erschreckend unzureichendes Klimapaket. Systemische Veränderungen beinhaltete dieses Paket nicht. Angesichts starker systemstabilisierender Beharrungskräfte kann es daher notwendig sein, darüber nachzudenken, wie der politische Druck (noch weiter) erhöht werden kann. Die Idee dahinter: Wenn der Druck hoch genug ist, können es sich die politischen Verantwortlichen nicht mehr leisten, ihn zu ignorieren oder schaffen es nicht mehr, ihn mit Kompromissen zu senken. Um den politischen Druck zu erhöhen, spielen zugespitzte gesellschaftliche Konflikte eine wichtige Rolle. Soziale Bewegungen

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sprechen in diesem Zusammenhang von Eskalation. Eskalation meint hier, dass politische Konflikte allmählich gesteigert und verschärft werden, um politische Ziele zu erreichen.

Eskalation kann unterschiedliche Formen annehmen: Einerseits kann politischer Druck erhöht werden, indem sich mehr Menschen an politischem Protest beteiligen. Das nennt sich auch horizontal eskalieren. Soziale Bewegungen befähigen und ermuntern immer mehr Menschen, sich an Protesten zu beteiligen und gleichzeitig die Leiter des Engagements hinaufzusteigen. Massenhafte Aktionen funktionieren nach diesem Prinzip. Die Aktivistinnen Payal Parekh und Carola Rackete erklären, was es dafür braucht: „Wir müssen niederschwellige Einstiegsmöglichkeiten schaffen, die die Menschen dabei unterstützen, auf eine Art und Weise aktiv zu werden, die sie anspricht, und sie gleichzeitig ein wenig aus  ihrer Komfortzone herausholt.“28 Im → Baustein: ORGANIZING - TRANSFORMATION AUS DEM ALLTAG HERAUS vertiefen wir, wie soziale Bewegungen in der Breite wachsen können.

Gleichzeitig kann der politische Druck auch dadurch erhöht werden, dass die Menschen, die sich bereits an politischem Protest beteiligen, höhere Risiken eingehen und radikalere Aktions­formen wählen. Das nennt sich dann vertikal eskalieren. Die Bandbreite von Aktionsformen – von Petitionen, Medienkampagnen und Straßentheater über Demonstrationen, Sitzblockaden zu Sachbeschädigungen oder auch symbolischen oder physischen Angriffen auf Personen – lässt verschiedene Eskalationsstufen zu. Konkret sind hiermit auch Aktionsformen gemeint, die außerhalb des legal vorgesehenen Rahmens stattfinden, zum Beispiel ziviler Ungehorsam, Sprüh-Aktionen, Ankleben von Aktivist*innen an Infrastrukturen, Hacken oder Sabotage. Vertikale Eskalation ist für viele Bewegungen ein großer Diskussionspunkt. In der Klimabewegung wird beispielsweise viel über friedliche Sabotage diskutiert. Diese zielt darauf, lebenszerstörende Infrastruktur zu beschädigen und außer Kraft zu setzen. Gleichzeitig werden dabei jedoch keine Menschen gefährdet.

Die Geschichte der vertikalen Eskalation von politischen Konflikten ist davon geprägt, dass beispielsweise Politiker*innen oder Mainstream-Medien (scheinbare oder tatsächliche) Gewaltanwendungen sozialer Bewegungen in den Vordergrund rücken. Sie zielen darauf, von der Sache abzulenken und soziale Anliegen und Bewegungen zu verunglimpfen. Dadurch, dass Gewalt – aus gutem Grund – negativ behaftet ist, wird das Label „Gewalt“ zu einem wichtigen Instrument im Kampf um Hegemonie. Strukturelle Formen von Gewalt und Unterdrückung lassen sich dadurch leicht unter den Teppich kehren. Als 2021 und 2022 Klimaaktivist*innen die Luft aus den Reifen von SUV entweichen ließen, fabulierten konservative Medien über die „Gewalt linker Chaoten“. Eine Debatte über die Gründe für diese Form der friedlichen Sabotage sparten diese Medien gezielt aus.

Die Diskussion, welche Rolle verschiedene Formen von Gewalt in emanzipatorischen Wandelprozessen spielen, ist nicht einfach. Linke Transformation zielt darauf, gewaltvolle Verhältnisse abzuschaffen. Manchmal entscheiden sich soziale Bewegungen strategisch für Aktionsformen, die beispielsweise von konservativen Politiker*innen als gewalttätig bezeichnet werden. Manchmal äußert sich linker Protest auch spontan eskalativ, zum Beispiel in wütenden Riots (übersetzt: Aufstand) oder als Antwort auf gewaltvolle Repression, und wird dann als „gewalttätig“ markiert. Mindestens in Deutschland führt eine wahrgenommene „Gewaltbereitschaft“ – zum Beispiel durch Sachbeschädigung – schnell dazu, dass sich andere Akteur*innen distanzieren oder sich Bewegungen spalten. Dies wird auch von herrschenden Gruppen ausgenutzt, um Proteste zu schwächen.

Wir denken, dass es sich lohnt, über das Verhältnis von Eskalation, Gewalt und Transformation nachzudenken und zu sprechen. Dies scheint auch deshalb sinnvoll, da oft auch gewaltfreie Aktionen mit (Polizei-)Gewalt beantwortet werden. Oder auch, weil andere Gruppen mit den gleichen Zielen andere Aktionsformen wählen. Dann stellt sich die immer wieder schwierige Frage: Wie verhalten wir uns in diesen Fällen? Wie können transformative Bewegungen strategisch und differenziert mit Fragen von Eskalation und Gewalt(-vorwürfen)

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umgehen? Inwiefern und unter welchen Bedingungen verschlechtern oder verbessern Aktionsformen, die als gewaltvoll wahrgenommen werden, die Chancen für eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung? Ihr findet im Folgenden keine abschließende Antwort. Wir schildern in den nächsten zwei Bausteinen einige Überlegungen zu diesen Fragen aus Theorie und Bewegungen.

Welche Rolle Eskalation und Gewaltvorwürfe aus einer Hegemonie-Perspektive spielen, schauen wir uns im → Baustein: DIE GEWALT DER VERHÄLTNISSE ENTLARVEN genauer an. Im → Baustein: SICH NICHT SPALTEN LASSEN schauen wir auf die strategischen Chancen und Risiken von Eskalation jenseits der Überlegungen zu Hegemonie. Wir thematisieren darin außerdem die Bedeutung solidarischer Bündnisse trotz unterschiedlicher Aktionsformen. Mit beiden Bausteinen möchten wir euch gedankliche Impulse geben und euch darin unterstützen, in ein strate­gisches Gespräch zu diesen Fragen zu kommen. Vorweg sei noch gesagt: Bei allen strategischen Überlegungen spielen die eigenen ethischen Bedenken und Maßstäbe eine zentrale Rolle. Auch uns haben sie beim Schreiben dieses Kapitels immer wieder dazu angeregt, Abschnitte zu diskutieren, zu verwerfen oder zu überdenken. Bis zuletzt hatten wir auch innerhalb des Kollektivs und auch im Kreis der Feedbackgebenden mehr konstruktive Debatte als Konsens zu diesen Fragen.

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